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Rattentanz

Titel: Rattentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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verließ.
    Nachdem Eva, Thomas und Beck eine Kleinigkeit gegessen hatten, nahm Eva Thomas an der Hand und verließ mit ihm das Haus. Unmittelbar hinter dem Pfarrhaus, nur durch eine kleine Wiese mit hundertzwanzigjährigen, riesigen Linden getrennt, stand die weiß gestrichene Kirche. Zu ihr ging das ungleiche Paar.
    Die untergehende Sonne verabschiedete sich mit einem mohnfarbenen Himmel. Eva wuchtete die schwere Eichentür auf.
    Bei ihrem ersten Besuch hier hatte sie der übervolle Raum fast erschlagen. Bunte Deckengemälde von der Erschaffung der Welt, eine Reihe Ölbilder mit dem Leidensweg Christi in Goldrahmen, dazu Kruzifixe und Marienstatuen in inflationärer Stückzahl. Alles sollte dem Besucher die Größe Gottes nahebringen. Und ihn erschlagen.
    Am heutigen Abend interessierte Eva weder die Decke noch Bilder oder Schnitzereien. Sie bekreuzigte sich und Thomas mit Weihwasser. Dann führte sie ihn zwischen Kirchenbänken hindurch ganz nach vorn an einen kleinen Metalltisch für die Andachtskerzen der Gläubigen. Sie entzündete ein Teelicht und gab es Thomas.
    »Für deine Eltern?«, fragte Eva. Thomas nickte und stellte die Kerze ab.
    Wann entzündet endlich jemand eine Kerze für uns?, maulte Nummer drei. Eva nahm eine zweite Kerze. Thomas sah sie an.
    »Die ist für Lea, meine Tochter, und für Hans. Hans ist mein Mann. Er ist gerade in Schweden.«
    Sie stellte das kleine Licht zwischen all die ausgebrannten leeren Metallschalen. Gab es Hoffnung?
    Sie fühlte sich allein wie schon lange nicht mehr.
    »Wieso lasst ihr mich nicht durch?«
    »Weil du nicht hierher gehörst.« Außerdem siehst du nicht gerade vertrauenerweckend aus, dachte der Mann auf der Brücke.
    »Aber ich bin nur auf der Durchreise.«
    »Ja klar, auf der Durchreise.« Der andere lachte. »Und dann wird mal eben auf der Durchreise jemand umgebracht oder ausgeraubt. Vergiss es! Wenn du weiterwillst, geh um den Ort herum. Hier geht’s für dich jedenfalls nicht weiter!«
    »Und warum habt ihr vorhin die drei durchgelassen? Waren die was Besseres als ich?«
    »Was geht dich das an, he? Aber damit du nicht denkst, wir haben was gegen dich persönlich: die drei bleiben nur eine Nacht bei Bekann ten. Morgen ziehen sie weiter nach Wellendingen. So, und jetzt mach, dass du fortkommst, bevor wir die Geduld verlieren.« Der Mann auf den Bahngleisen spielte demonstrativ mit einer doppelläufigen Flinte. Aber das brauchte er gar nicht. Hermann Fuchs hatte gehört, was er wissen wollte.
    Er bog nach rechts in einen Wald ab, überquerte in etwa einem Kilometer Entfernung vom Ort die Bahngleise. Dort, wo die Landstraße Hausen vor Wald wieder verließ, richtete er sich in einem kleinen Wäldchen sein Lager für die Nacht. Hier wollte er warten.
    Als Hermann Fuchs kurz nach Mitternacht sein kleines Schlaflager durchgefroren verließ und sich einem einzelnen Gebäude am Ortsrand näherte, fuhr Eva aus dem Schlaf. Sie hatte von Thomas geträumt. Zuerst von der kleinen Fahrstuhlkabine, nur dass in ihrem Traum die Wände verkohlte Mauerreste waren. Thomas war aus dem Aufzug geklettert. Er hatte gelacht und sich auf die Schenkel geklopft und schien sich köstlich darüber zu amüsieren, dass Eva einen vollen Tag gebraucht hatte, ihn endlich in seinem Versteck (Versteck!) zu entdecken. Sein Lachen hatte übergangslos in einen zweiten Teil ihres Traumes geführt: sie sah sich auf einem Berg sitzen. Es war ein kahler Gipfel, ohne Bäume, Gräser und Getier. Nur nackter Fels und überall am Horizont leuchteten die Feuer brennender Tankstellen (Wenn sie sich hinterher auch fragte, wieso – im Traum war es eine Gewissheit, dass es Tankstellen waren). Rauchfinger stiegen kerzengerade in den Himmel und verdeckten eine trübe Sonne. Plötzlich hatte der Fels unter ihr nachgegeben und Eva war in ihrem Traum einen steilen Hang hinabgerutscht, Meter um Meter, und selbst jetzt – sie saß schweißgebadet auf ihrer Bettkante – spürte sie noch die Panik in sich, ihre Todesangst. Sie hatte nach einem Halt gesucht, aber ihre Finger waren immer wieder vom glatten Gestein abgeglitten, Kies rutschte ab und zog sie wie ein Strudel immer weiter nach unten. Sie stürzte auf eine Grube zu, in der sie Männer entdecken konnte, Männer, die mit ausgestreckten Armen auf sie warteten. Hässliche Männer. Böse Männer. Kurz vor ihrem unvermeidlichen Sturz in die Grube fühlte sie sich plötzlich an der Hand gepackt. Und gerettet!
    Als sie erwachte, verschwanden der Berg, die

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