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Rattentanz

Titel: Rattentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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nicht tot?
    Hans Seger hatte in den vergangenen siebenunddreißig Stunden Mal mö im Chaos versinken sehen. Nach seinem unterbrochenen Telefonat mit Lea war er ins Erdgeschoss des Hotels gerannt und versuchte es mit dem Telefon an der Rezeption. Bevor er aber mit dem Portier ein Gespräch über die unterbrochenen Telefonleitungen anfangen konnte, zerriss eine Explosion den Morgen. Ein Flugzeug, im Anflug auf den nahegelegenen Kopenhagener Flughafen in Dänemark, stürzte mitten in die südschwedische Stadt und ging in Flammen auf.
    Neben dem Haupteingang des kleinen Hotels befand sich eine winzige Sitzecke. Ein abgewetztes Sofa und einige Sessel drängten sich um einen Fernseher. Das Gerät rauschte und auf dem Bildschirm tanzten schwarze, weiße und graue Punkte, während der Portier mit der Fernbedienung hantierte.
    Hans Seger beschloss, in seinem Zimmer zu bleiben, wenigstens so lange, bis die Kommunikation wiederhergestellt war und er wüsste, ob es sich um einen Terroranschlag handelte oder ob es nur ein Unfall war. Zu diesem Zeitpunkt glaubte er noch, dass, was auch immer hier vorging, ein auf den Raum Malmö beschränktes Phänomen war. Den Glauben daran hatte er aber mittlerweile verloren. Spätestens seit der Sache mit dem Tanker.
    Segers Hotel lag am Hafen, nur von einer breiten Straße und dem anschließenden groben Strand vom Öresund getrennt. Der Öresund, eine vielbefahrene Meerenge, verbindet Nord-und Ostsee. Seit Juli 2000 waren die beiden großen Städte der Region – Kopenhagen auf dänischer und Malmö auf schwedischer Seite – durch die Öresundbrücke miteinander verbunden.
    Die Freedom of the Sea war ein unter der Flagge Panamas fahrender britischer Öltanker. Am 23. Mai, 07:00 Uhr, fielen an Bord zeit-gleich Navigation, Steuerung und sämtliche Kommunikationseinrichtungen aus. Zu dieser Zeit wollte der Meeresriese gerade im Kopenhagener Ölhafen anlegen.
    In den nun folgenden Stunden trieb der randvolle Tanker führerlos um eine dem Hafen vorgelagerte Insel und wieder zurück in den Öresund.
    Am Nachmittag des 24. Mai erreichte der Tanker die Öresundbrücke. Punkt fünfzehn Uhr stieß der Koloss vor den Toren Malmös ge gen einen der Pfeiler der fast achttausend Meter langen Konstruktion. Die achtzehnköpfige Besatzung hatte sich schon eine Stunde zuvor in Sicherheit gebracht, als die Kollision bereits absehbar war. Jetzt mussten sie zusehen, wie die Freedom of the Sea auf einen unterseeischen Schutzwall auflief, emporgehoben wurde und kurz darauf zerbrach. Sekunden später schossen Flammen in die Höhe, es folgte eine ohren betäubende Detonation. Die Wucht der Explosion ließ einen Pfeiler der Brücke wegbrechen. Ihm folgten zwei Brückensegmente aus Stahl und Beton, jedes über einhundert Meter lang. Auf den beiden Etagen des betroffenen Brückenabschnitts befanden sich zum Zeitpunkt des Einsturzes achtundsechzig Personen.
    Hans Seger beobachtete all dies von seinem Hotelfenster aus. Er wusste: Skandinavien war nun wieder eine Halbinsel – zu Fuß nur noch über Finnland und Russland zu erreichen. Oder zu verlassen. Mit dem Einsturz der Brücke löste sich sein Vorhaben, zu Fuß über die Brücke nach Dänemark und von da aus weiter nach Deutschland zu gelangen, in Luft auf. Oder in Rauch, wenn man so wollte. Denn inzwischen hatte er einsehen müssen, dass es sich hier weder um einen kurzen noch um einen lokal beschränkten Zivilisationsausfall handelte. Nein, wurde ihm klar, da war etwas Größeres im Gange, etwas, das aus braven Bürgern Plünderer, aus Familienvätern Mörder und aus Zivilisation Chaos machte. Willkommen in der Urzeit.
    Segers Hände zitterten, kräftige Hände, die gepflegten und sauberen Hände eines Mannes, der sich und seine Familie als Vertreter ernährte. Schwedische Fischereiprodukte für Deutschland. Seine Schweig samkeit war dabei nur auf den ersten Blick von Nachteil. Bei Verhand lungen deuteten seine Partner Segers Schweigen oft als Zögern und gingen, ohne dass er lange verhandeln musste, von sich aus mit ihren Preisen herunter. Solange, bis Seger irgendwann nickte und das Geschäft beschlossene Sache war.
    Er hatte sein Zimmer seit siebenunddreißig Stunden nicht mehr verlassen. In der vergangenen Nacht hatten die Plünderungen auch das kleine Familienhotel erreicht und das Foyer verwüstet. Seger verbarrikadierte daraufhin seine Zimmertür und beobachtete, wie die Plün derer das Hotel verließen und sich einem Antiquitätengeschäft gleich nebenan

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