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Rattentanz

Titel: Rattentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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zuwandten. Die Lichtkegel ihrer Taschenlampen tanzten bis in die frühen Morgenstunden. Als die Sonne aufging, schlief Se ger endlich ein. Als er nach drei Stunden Schlaf erwachte, lag der Mann am Strand.
    Ein Hund näherte sich dem Toten (Seger war sich mittlerweile sicher, dass dieser tot war) und zog immer engere Kreise um den Mann. Er schnüffelte mit angelegten Ohren und sicherte immer wieder mit erhobenem Fang in alle Richtungen. Plötzlich zog er den Schwanz ein und verschwand hinter einer Hausecke. Eine alte Frau hatte ihn aufgeschreckt und vertrieben. Sie kam die Strandpromenade entlang, entdeckte den Mann und blieb stehen. Nun war es an ihr, sich umzusehen. Sie ging hinunter und Hans war froh, dass sich nun endlich jemand um den Toten kümmerte. Die Frau würde ihm sicher helfen, wenn noch zu helfen war oder wenigstens dafür sorgen, dass ihn die Polizei oder ein Krankenwagen von da wegbrächte.
    Polizei? Krankenwagen?
    Die Frau zeigte vorerst keinerlei Interesse an dem Mann selbst! Ja cke und Koffer hatten es ihr angetan. Mit einer ernüchternden Gründlichkeit untersuchte sie sorgsam die Habseligkeiten des Mannes, griff zuletzt noch in all seine Hosentaschen, dann marschierte sie weiter, ohne auch nur einmal in das Gesicht des Toten geblickt zu haben.
    Eine halbe Stunde später kam der Hund zurück. Das Tier hatte jetzt alle Scheu abgelegt und begann, an der Hand seines Opfers zu nagen. Wenig später erschien ein zweiter Hund, dann ein dritter und ein vierter. Hans schätzte, dass sich inzwischen ein gutes Dutzend Tiere in wechselnder Zusammensetzung um den Toten kümmerte. Er sah dem Treiben fasziniert und gleichzeitig angewidert zu und plünderte nebenher die Vorräte des winzigen Kühlschranks in seinem Zimmer: schales Mineralwasser, lauwarmer Whiskey und versalzene Erdnüsse sowie ein paar Schokoriegel. Er beobachtete dabei den Strand und lauschte den fremden Geräuschen, die plötzlich die Stadt beherrschten: Explosionen und Gewehrfeuer, Schreie. Er sah am Stadtrand Rauch aufsteigen und immer wieder Plünderer. Und während all der Zeit ließ sich kein einziger Polizist sehen, keine Armee, die endlich wieder Ordnung und Sicherheit herstellte. Keine Flugzeuge am Himmel und ein leergefegter Öresund. Stündlich nahm Hans Seger sein Handy und wählte Evas Nummer in Wellendingen oder die im Kran-kenhaus. Er versuchte es bei Faust, aber die Leitungen blieben tot, so tot wie der Mann am Strand. Und Segers Handy war ein seelenloses Etwas. Unnütz, ein Relikt. Erinnerung an eine funktionierende Welt. Seit einer Stunde lag das Handy nun vor ihm auf dem Schreibtisch. Der Akku war endlich leer und Hans Seger beinahe erleichtert.
    Als die Hunde den Kopf des Toten vom Rumpf abgetrennt hatten und dieser über den Sand ins Wasser rollte, zog Hans die Vorhänge zu und setzte sich an den Schreibtisch. Während in Wellendingen der neugewählte Rat des Dorfes zu seiner konstituierenden Sitzung im Haus von Roland Basler zusammenkam und seine Frau in Begleitung zweier Männer – und von einem dritten verfolgt – Donaueschingen verließ und Hausen vor Wald, ein kleines Dorf auf dem Weg nach Wellendingen, fast erreicht hatte, nahm Hans Seger einen Bogen Briefpapier mit dem Logo des Hotels in der rechten oberen Ecke.
    Mein kleiner Liebling, begann er.
    Schade, dass wir gestern, als du mir gerade von dem Frosch erzählt hast, unterbrochen wurden. Du warst bestimmt genauso erschrocken wie ich. Geht’s dir gut? Mit mir ist so weit alles in Ordnung, nur die Leute hier in Malmö, die spielen alle ein wenig verrückt. Aber das wird sicher wieder. Hoffe ich, mein Schatz.
    Auf dem Briefbogen des Hotels glänzten jetzt zwei Tränen und verzogen das Papier. Ich hoffe auch, ich habe dir oft genug gesagt, dass ich dich lieb hab, Lea, und dass du das tollste Kind bist, das man sich nur wünschen kann! Ich weiß nicht, wie alles weitergeht, vielleicht sehen wir uns bald wieder, vielleicht aber auch nie mehr. Und vielleicht bekommst du diesen Brief auch nie, wer weiß, wann der Briefkasten unten im Foyer mal wieder ge- leert wird.
    Wenn er überhaupt noch da ist, dachte Seger bei der Erinnerung an die vergangene Nacht.
    Vorhin musste ich daran denken, wie schön es Neujahr war, als wir zusammen den Schneemann gebaut haben und du unbedingt erst noch eine Frau – mit riesigen Brüsten – und dann auch noch ein Kind woll- test. Weißt du noch? Und danach – mhh, Mamas leckerer Punsch! Im Moment habe ich ein bisschen Angst, Lea, deshalb

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