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Rattentanz

Titel: Rattentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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in die Welt.
    Am 28. November des vergangenen Jahres gelang es dem ersten Baustein, auf der verbotenerweise mitgebrachten privaten CD von Paul-Werner Hagendorn, einem mittleren Bundesbeamten, die Tore des Bundesinnenministeriums zu passieren. Er hatte vor wenigen Wochen geheiratet. Komponente zwei und drei warteten damals bereits geraume Zeit auf seinem Computer. Von seiner Karibikkreuzfahrt, das Hochzeitsgeschenk ihrer Eltern, hatten sie neben einem ordentlichen Sonnenbrand, der Erfahrung des ersten Ehekrachs und einigen unbedeutenden Souvenirs auch den fehlenden Baustein Numero eins mitgebracht. Der Service der Kreuzfahrtgesellschaft, ihren Kunden an Bord das Überspielen von digitalen Fotos auf eine DVD zu ermöglichen, hatte dieser Anfang August einen Virus eingebracht. Den verteilten sie fortan an Besucher aus der ganzen Welt, auch an PaulWerner Hagendorn.
    Während die Kolleginnen und Kollegen nun über den gelungenen Hochzeitsbildern die Köpfe zusammensteckten, enterten die drei Teile den ersten Regierungscomputer. Ein reger Postverkehr via E-Mail und deutsche Gründlichkeit, die Kopien eines Vorganges an eine Unzahl angeblich Beteiligter verlangte, verhalfen den Komponenten zu einer raschen Verbreitung in allen Ministerien. Und von da aus ging es weiter zu befreundeten und auch weniger befreundeten Regierungsfestplatten in der ganzen Welt und natürlich nach Brüssel.
    05. Mai
    Die Ansteckungsgefahr der für die Versorgung der Bevölkerung als absolut lebenswichtig definierten Einrichtung war − einer UN-Studie zufolge, die viel Zeit und noch mehr Geld verschlungen hatte − als gering bis nicht existent zu erachten. Diese Studie, die sich wohlgemerkt auf Computerviren und nicht auf grippale Infekte bei der jeweiligen Belegschaft bezog, wurde von einem neunköpfigen Gremium in jeweils mehrwöchigen Aufenthalten in Sao Paulo, Islamabad und Sydney erarbeitet. Bis auf die australische Metropole entsprachen diese Orte den Herkunftsländern der drei gleichberechtigten Direktoren des Gremiums. Sydney wurde gewählt, weil der Vertreter Vanuatus in seinem Heimatland kein der Bedeutung des Projektes entsprechendes Tagungszentrum fand. Die Teilnehmer gehörten folgenden Berufen an: Politologen/Diplomaten: 5, Mediziner: 2, Metallbauingenieur: 1, Betriebswirtschaftler: 1.
    Das in sieben Sprachen abgefasste und jeweils circa zweihundertvierzigseitige Hauptdokument wurde von einer die Fußnoten erklärenden Begleitbroschüre ergänzt, welche ungefähr dreihundert Seiten umfasste. Titel der Broschüre wurde nach zähen Verhandlungen: »Über Gefahren und Gefährdungen einer Destabilisierung der öffentlichen, der privaten und der staatlichen Ordnung, Sicherheit und Handlungsfähigkeit, hervorgerufen mittels mutwillig, fahrlässig oder grob fahrlässig direkt oder indirekt (d. h. über Dritte, welche als Überbringer, nicht aber als Verursacher zu betrachten, zu behandeln und eventuell zu verurteilen sind) herbeigeführter Störungen der oben angeführten Bereiche und den hieraus resultierenden Folgen für das persönliche und das allgemeine Wohl und den Zustand der bestehenden Ordnung«. Die Quintessenz der Studie war die Feststellung, dass die heute existenten Sicherheitsvorkehrungen, nach Ansicht dieser Fachgruppe, einen absichtlichen oder versehentlichen weltweiten Virenbefall aller computergesteuerten Systeme ausschließen würden.
    Die Studie wurde am 5. Mai ohne große Beachtung der Weltöffentlichkeit in New York vorgestellt.
    Zur selben Zeit erreichten die drei Bauteile des vor über dreihundert Tagen geschaffenen Virus’ das letzte Kraftwerk in Deutschland. Ein Servicetechniker, welcher in der vergangenen Woche das Computersystem im Kraftwerk Schwedt auf den aktuellen Stand gebracht und sich dabei den kompletten Virus eingefangen hatte, installierte zusammen mit dem aktuellen Betriebssystem auch die drei Komponenten in Frankfurt an der Oder.

6
    23. Mai, 07:15 Uhr, Krankenhaus Donaueschingen, Aufzug 2
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    Der Aufzug war vor einer Viertelstunde zwischen Keller und Erdgeschoss des dreistöckigen Gebäudes mit einem abschließenden Zittern stehen geblieben. Zeitgleich flackerten die grellen Deckenlichter, dann gingen sie aus. Ebenso das rote Schimmern der Anzeige, die soeben im Begriff gewesen war von minus eins auf null umzuspringen. Noch ein letztes halbherziges Ruckeln des Stahlkastens, dann war Ruhe.
    Thomas Bachmann stand jetzt seit fünfzehn Minuten reglos in der Mitte des vielleicht drei Quadratmeter

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