Rattentanz
messenden Aufzuges. Thomas war mittelgroß, dünn, hatte hängende Schultern, struppiges, schwarzes Haar und dichte Brauen. Er hatte das rasch schwächer werdende letzte Zittern um sich herum genau registriert und im selben Maß, in dem der Aufzug langsam auspendelte, wuchs der Kloß in seinem Hals und nahm das Geräusch von viel zu schnell und viel zu heftig pulsierendem Blut in seinen Ohren zu. Thomas Bachmann schob die wuls tige und weit vorstehende Unterlippe noch weiter nach vorn. Nervös knabberte er an den spröden Hautfetzchen rechts und links der kurzen Fingernägel.
Hab ich’s dir nicht gesagt? Nimm nicht den Aufzug, sagte ich, aber nein, der junge Mann weiß ja Bescheid und ist völlig normal und so wie jeder Normale muss er natürlich in diesen Stahlsarg steigen. Und jetzt? He, was ist jetzt?
»Sei still«, flüsterte Thomas. Das war Nummer zwei, die gesprochen hatte. Nummer zwei, weiblich, die immer (hinterher) alles ganz genau und natürlich besser wusste. Nummer zwei, die Stimme der Frau in seinem Kopf.
Der kleine Personenaufzug war knapp drei Meter hoch und vom braunen Boden bis zur Decke mit Aluminiumplatten ausgekleidet, ebenso die zweigeteilte Schiebetür. Wenn das Licht funktionierte, glänzte das Aluminium. Aber jetzt war es finster. Ein kinderarmdickes Stahlrohr klammerte sich an drei Seiten der Kabine in Hüfthöhe an die Wand. Wenn sich größere Menschen, vielleicht ab eins neunzig, an die Wand lehnten, gab ihnen das quer hinter ihrem Gesäß verlaufende Stahlrohr das Gefühl, Tester einer noch nicht ganz ausgereiften mittelalterlichen Donnerbalkenkonstruktion zu sein. In die Decke waren zwei quadratische Milchglasscheiben eingelassen. Sie verström ten im Normalfall grelles Kunstlicht, jetzt waren sie blind, wie auch die Etagenanzeige des Fahrstuhls, unter der die fünf kleinen Tastenquadrate der einzelnen Etagen vom Keller bis zum dritten Stock angebracht waren. Daneben hing ein Notruftelefon.
Thomas stand stocksteif in der Kabinenmitte und klammerte sich mit beiden Händen an seine glänzende schwarze Aktentasche. Er versuchte sich zu konzentrieren, auf sich, seine drei Stimmen, auf Geräusche, die vielleicht zu ihm vordrangen, auf Licht – er wusste nicht genau auf was. Aber er konzentrierte sich und das mit aller Macht. Denn sein Arzt hatte ihm bei einer ihrer letzten Sitzungen ganz klar gesagt, dass er die Kontrolle um jeden Preis behalten müsse, dass er, Thomas, in keiner Situation die Ruhe verlieren dürfe. Denn auf diesen Moment würden Nummer eins, Nummer zwei und vor allem Nummer drei nur warten, vierundzwanzig Stunden am Tag. Was die drei Stimmen in seinem Kopf aber machen würden, sollte er doch einmal die Kontrolle verlieren – auf diese Frage wusste auch sein Arzt keine Antwort, nur, dass es schlimm werden würde, die Stimmen in pausenlose Streitereien verfallen würden und er, Thomas, dann wahrscheinlich nicht mehr ambulant behandelt werden könnte, sondern wieder in eine Anstalt müsse. Und davor hatte Thomas Angst, vor der Anstalt, der Psychiatrie!
Keine Kontrolle zu besitzen war in seinen Augen nicht weiter schlimm. Man konnte sich sorglos dahintreiben lassen, was er oft genug auch ausführlich tat, und abwarten, was das Leben als Nächstes bereithielt. Und manchmal gaben ihm seine Stimmen einen Ratschlag, manchmal sogar einen brauchbaren.
Aber vor der Psychiatrie hatte er Angst.
Vor zwei Jahren, kurz nach seinem sechsundzwanzigsten Geburtstag, war er ins PZB eingewiesen worden. Gegen seinen Willen!
Das PZB, Psychiatrisches Zentrum Bodensee, wurde sein persönlicher Albtraum. Nicht etwa wegen der Medikamente, mit deren Hilfe sie die Stimmen in seinem Kopf für einige Tage fast mundtot machen konnten (welch Leere!), auch die gepolsterten Manschetten an Handund Fußgelenken und der dicke, mit magnetischen Schlössern gesicherte Bauchgurt waren ihm im Nachhinein egal. Was ihm aber zu schaffen machte, war das Gefühl der Ohnmacht. Mit der Einweisung und einer anschließenden recht undifferenzierten Diagnosestellung hatten sie ihn all seiner Macht beraubt, der Macht über das eigene Leben und das eigene Handeln. Er war ohne Macht. Der einzig gangbare Weg aus der Psychiatrie führte ihn damals durch einen viermonatigen Wust an Gesprächskreisen, in denen jeder Patient vor seinen Therapeuten und den unglücklichen Mitpatienten hemmungslos sein Innerstes nach außen kehren musste. Unterbrochen wurden die Sitzungen von Einzelgesprächen, therapeutischen,
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