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Rattentanz

Titel: Rattentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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Hand aus. Er wusste, dass er mit dem Gesicht Richtung Tür stand. So stellte er sich in jeden Aufzug, vielleicht um sehen zu können, wer beim nächs ten Halt ein-oder ausstieg oder weil man einen Eingang, noch dazu den einzigen, einfach im Auge behalten muss! Jede andere Stellung hätte etwas Verschämtes, eine Bestrafung wie in der Schulzeit, wo Thomas manche Unterrichtsstunde in der Ecke, mit dem Gesicht zur Wand und allein mit sich und seinen verirrten Gedanken, zubringen musste.
    Er versuchte einen kleinen Schritt nach vorn, aber Nummer zwei hielt ihn zurück.
    Das würde ich nicht tun!
    Thomas hielt abrupt in der gerade begonnenen Bewegung inne –
    ein Hund, der vom Hof rennen will, aber von einer klirrenden Kette mitten in der Bewegung zurückgerissen wird.
    Oder bist du dir sicher, dass der Boden vor dir noch da ist? Was ist, wenn wir irgendwo im Nichts auf einer schmalen Säule stehen? He, wo hin führt uns dann dein tapferer Schritt nach vorn? Thomas wollte sich gerade ihre Worte durch den Kopf gehen lassen, als Nummer eins seine Zweifel zerstreute:
    Wir sind in einem Aufzug gefangen. Und ein Aufzug hat bekannt- lich vier Wände, eine Decke und einen Boden. Also los, hör nicht auf das Geschwätz.
    Nummer zwei räusperte sich. Das war die ganze pikierte Antwort. Jedes weitere Wort verkniff sie sich.
    Thomas erschien das Argument mit der eventuellen Säule abwegig. Aber wenn sie nun doch recht hat? Hätte er vor ein paar Minuten auf sie gehört, wäre er jetzt im Treppenhaus. Und in Sicherheit. Er rieb seine Handflächen aneinander und atmete meditativ mehrmals mit geschlossenen Augen tief durch, um seine aufsteigende Angst zu bekämpfen. Er spürte sie deutlich, seine Angst. Sie wohnte irgendwo in der Nähe seines Magens, wo sie normalerweise nicht weiter auffiel oder störte. Aber in Situationen wie dieser (und ein stecken gebliebener Aufzug war nun wirklich wie geschaffen, Angst zu verbreiten, selbst wenn das Licht noch funktionierte − was in diesem Augenblick bekanntlich nicht der Fall war) streckte sich das kleine Pflänzchen Angst. Es öffnete die tausend Augen und, einmal wach geküsst, gab es dann kaum noch ein Halten.
    Aber Thomas hatte gelernt, gegen seine Ängste zu kämpfen! In ihm wohnten viele Ängste und er kannte sie alle. Die Angst vorm Al-leinsein, Angst vor der Dunkelheit, Angst, ausgelacht zu werden, Angst vor der Psychiatrie, den Pflegern dort und dem Fixiertwerden. Des Weiteren war da noch die Angst vor Frauen (die einzige Frau, mit der er einigermaßen auskam, war Nummer zwei), die Angst vor Neu em und Höhenangst.
    Er kramte in seinen Taschen, umständlich und darauf bedacht, die Stellung in der Kabinenmitte zu halten. Die Angst rekelte sich in seinen Därmen und er spürte ihre Bereitschaft, plötzlich in nackte Panik umzuschlagen. Thomas war allein, es war dunkel und er war eingesperrt – drei Ängste, die ihre Zähne fletschten und nur darauf warteten, ihn zu zerreißen.
    Obwohl Thomas wusste, wo in seiner Hose der kleine Ball war, den er jetzt brauchte, tastete er sich zuerst doch langsam durch all seine anderen Taschen. Mit kindlicher Freude spürte er die vertrauten Gegenstände, die ihm wichtig waren. Und sie zu berühren beruhigte ihn. All diese Dinge waren ihm wichtig, so wichtig, dass er sie immer bei sich trug und für niemanden und nichts bereit gewesen wäre, auch nur einen Gegenstand herzugeben.
    In seiner Gesäßtasche, dort, wo jeder andere Mann seinen Geldbeutel aufbewahrt, steckten drei Bilder. Das erste, ein aus einer Tageszeitung herausgerissenes Foto, zeigte schwarz-weiß auf dünnem Papier ein altes, von Efeu überwachsenes Haus mit weißem Gar tenzaun, an dem Rosen rankten. Das Bild war an einem warmen Tag aufgenommen, denn die einfachen Holzfenster standen weit offen und auf einer ausgetretenen Steinstufe lag faul eine fette Katze. Nummer eins bestand auf diesem Bild. Es sei seine Heimat.
    Nummer zwei war in eine Ansichtskarte von Paris vernarrt. Damit diese in die Tasche passte, hatte er sie falten müssen und von dem so entstandenen Falz blätterte Farbe ab. Aber noch immer konnte man den Eiffelturm als Großaufnahme und, auf kleineren und etwas schräg eingefügten Bildchen, die Seine, das Moulin Rouge, Sacré-Cœur und den Arc de Triomphe bewundern. In schwungvollen Lettern leuchtete der Name der Stadt: Paris.
    Nummer drei wollte hässliche Bilder. Saddam Hussein am Galgen oder einen überfahrenen Igel, dessen Därme neben ihm lagen. Aber Thomas war

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