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Rattentanz

Titel: Rattentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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gemeinschaftlichen Spaziergängen am Bodenseeufer und der gelegentlichen Ankunft eines neuen Opfers, auf das sich die Pfleger, dankbar für die willkommene körperliche Betätigung, mit Enthusiasmus stürzten und fürs Erste an ein Bett fixierten.
    Überhaupt war dies das Schlimmste – fixiert zu werden. Es war diese körperliche Gewalt und die damit einhergehende Ohnmacht, welche der psychischen Gewalt das i-Tüpfelchen aufsetzte.
    Aber als sie die Medikamente reduzierten, sein Kopf klarer wurde und die Stimmen zaghaft zurückkehrten, hatte er diese eisern geleugnet. Nur seinem Arzt, Dr. Meier, der ihn ambulant hier im Allgemeinkrankenhaus in Donaueschingen weiterbehandelte, vertraute er sich manchmal an. Ihm erzählte er ein wenig von Nummer eins, der Stimme eines alten Mannes, die weise und überlegen alles begreift und über allem steht. Er war selten zu hören und wenn, dann meist nur, um Nummer zwei oder drei in die Schranken zu weisen, wenn diese wieder einmal völlig den Verstand verloren hatten. Nummer zwei war eine Frauenstimme. Sie überlegte sich zu jedem Schritt, den Thomas unternahm, mindestens drei Alternativen. Bei ihr konnte er, während ihr Geschwätz den letzten Rest Klarheit aus seinen Gedanken spülte, immer nur verlieren. Garantiert hielt sie ihm hinterher vor, dass es ja noch Alternativen gegeben hätte und SIE ihm diese vorgeschlagen hatte und er mit den anderen Möglichkeiten auf jeden Fall besser gefahren wäre.
    Nummer drei war sein Albtraum. Nummer drei war verrückt! Er hatte eine schrille, blecherne Stimme und kicherte unentwegt. Nummer drei war auch an seiner Einweisung in die Psychiatrie schuld. Sie, Thomas und seine drei imaginären Begleiter, waren an diesem Tag vor zwei Jahren in Konstanz gewesen und warteten auf den Zug zurück nach Donaueschingen, wo Thomas seit seiner Geburt lebte. Nummer drei hatte schon die ganze Zeit gelacht und auf ihn eingeredet, wie unsagbar schlecht doch diese Welt sei und dass es für Menschen wie ihn keinen Platz gäbe. Die einzig ehrenvolle Möglichkeit, dem Ganzen ein Ende zu bereiten, sei, sich vor den nächstbesten Zug zu werfen.
    Diese Bemerkung hatte die anderen auf den Plan gerufen. Nummer zwei hatte prinzipiell zugestimmt, dabei aber an durchaus brauchbare Alternativen erinnert: man könne zum Beispiel Gift nehmen oder nach Paris reisen und sich vom Eiffelturm stürzen oder eine Guillotine bauen und sich selbst im Sinne der immerwährenden Weltrevolution richten. Man könne aber auch mit einem Fremden hier auf dem Bahnsteig einen Streit vom Zaun brechen und sich von ihm vor den Zug werfen lassen. Schließlich meldete sich Nummer eins (sein Kopfschütteln konnte Thomas in diesem Moment auf dem Bahnsteig fast körperlich spüren) und verlangte, die Entscheidung zum Thema Selbstmord wenigstens so lange zu verschieben, bis man, zu viert sozusagen, noch einmal in aller Ruhe jedes Für und Wider hierzu ausdiskutiert habe und (ganz wichtig!) die Meinung Betroffener eingeholt wäre.
    In diesem Augenblick fuhr der Zug ein. Die Stimmen in seinem Kopf brachen sich Bahn und schrien und tobten: Los, hihi, los, spring! Hihi, wir haben es gleich geschafft!
    Also ich würde den Eiffelturm vorziehen. Ich wollte schon lange einmal Paris sehen! Oh, Paris …
    Nummer eins räusperte sich immer wieder, wurde aber von den anderen beiden ignoriert und übertönt.
    In diesem Moment war Thomas auf dem Bahnsteig zusammengebrochen und während der Zug mit kreischenden Bremsen zum Stehen kam, kniete er inmitten verständnislos blickender Menschen auf dem Bahnsteig. Sie strömten an ihm vorbei und Thomas hielt sich die Ohren zu und schrie. Er schrie so laut er nur konnte, um dem Lärm in seinem Kopf Herr zu werden, um die, die ihm seit Jahren so vertraut waren, zu übertönen. Dann kamen zwei Polizisten und trugen Thomas, weiter schreiend, weg. Jetzt, im Aufzug, verhielten sich die drei auffallend still.
    »Und? Keine Kommentare, keine Ratschläge oder Meinungen?«, fragte Thomas leise.
    Ich sagte schon, dass die Treppe sicherer gewesen wäre. Sonst nichts.
    Auf Thomas’ Stirn bildeten sich erste Schweißperlen. Er verharrte weiter in der Kabinenmitte, als könne eine einzige unbedachte Bewegung seinerseits die Kabine zum Absturz bringen. Aber selbst wenn dieser ziemlich abwegige Fall eintreten sollte, konnte er nicht allzu tief stürzen, er befand sich bereits fast am tiefsten Punkt des schmalen Aufzugschachtes.
    Schließlich wagte er eine erste Bewegung. Er streckte die

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