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Rattentanz

Titel: Rattentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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nicht bereit, dem nachzugeben. Da sie sich nicht auf eine weniger anstößige Abbildung einigen konnten, suchte Thomas aus einem Abfallbehälter in einem Drogeriemarkt ein Foto heraus. Ein enttäuschter Kunde hatte mehrere seiner fehlbelichteten Urlaubsfotos weggeworfen. Das Bild, das Thomas für Nummer drei einsteckte, war ein unscharfes Kinderporträt. Undeutlich und verschwommen waren blonde Haare vor einem blauen Himmel zu erkennen, der Rest, die Details und das Leben in dem Bild, verschwamm mit den Farben zu einem undeutlichen Traum. Er fand, das Motiv passte zu Nummer drei!
    In der vorderen rechten Hosentasche bewahrte Thomas Bachmann ein altes Fünfmarkstück auf. Man weiß schließlich nie was kommt. Oder geht. Und an das ungültige Geldstück schmiegte sich ein kleines Stempelkissen sowie ein Stempel, wie er in jedem gut sortierten Büro zu finden ist, so einer, bei dem sich das Datum nach Tag, Monat und Jahr verstellen lässt und außerdem noch so wichtige Bemerkungen aufgestempelt werden können wie ERLEDIGT, GEMAHNT, TERMIN oder FAKTURIERT. Vorn links trug er zwei heilige Knöpfe in seiner Hose. Heilig, weil sie von den jeweiligen Hemden stammten, in denen man seinen Großvater und seine Großmutter vor Jahren beerdigte. Als sein Großvater starb, war er sechs, bei seiner Großmutter elf Jahre alt und beide Male lagen die leblosen Körper noch zwei Tage in ihrer Wohnung aufgebahrt. Wer wollte, konnte Abschied nehmen und noch eine letzte Stunde mit ihnen verbringen. Er hatte es zwar immer nur fünf Minuten allein in dem muffigen Zimmer ausgehalten, dafür aber auch als Einziger ein Andenken an ihr letztes Hemd. Thomas spielte mit den Knöpfen, bevor er endlich den kleinen hellgrünen Gummiball hervorholte. Er war nicht richtig grün. Es war ein Ball von der Sorte, die, wenn man sie einfach nur fallen lässt, fast wieder bis zur selben Höhe zurückspringen und aus diesem undefinierbaren durchsichtigen Zeug bestehen, in dem, neben winzigen Luftbläschen, verschiede ne Farbstreifen eingeschlossen sind. Seiner hatte fast nur grüne Streifen. Deshalb war es sein grüner Ball.
    Thomas hielt den Ball in der ausgestreckten Rechten und, obwohl dies die Dunkelheit, in der er feststeckte, in keiner Weise veränderte, schloss er die Augen. Er zählte leise bis drei, dann öffnete er die Hand und ließ den Ball fallen.
    Anders als von Nummer zwei beschworen, folgte unmittelbar ein dumpfes Plopp . Der Ball sprang zurück, dann wieder ein Plopp . Und noch eines und noch eines. Plopp . In immer kürzeren Abständen genoss er den beruhigenden Ton, der von festem Boden erzählte, bis der Ball endlich über den Boden rollte und in einer der Ecken vor ihm liegen blieb.
    Es wäre aber im Bereich des Möglichen gewesen, meldete sich Nummer zwei. Das mit der Säule.
    Thomas nahm nun all seinen Mut zusammen. Er streckte die Hände wieder aus und wagte schließlich einen weiten Schritt nach vorn. Ein kleiner Schritt hätte allerdings auch gereicht, denn in der Enge der Kabine stieß er so fast mit dem Gesicht gegen die Aufzugtür. Seine Hände ertasteten die kalten Aluminiumplatten und den schmalen Schlitz genau in der Mitte. Thomas presste sein Auge gegen die Stelle, an der die beiden Schiebetüren zusammenstießen, konnte aber nichts, nicht einmal ein helles Flackern, erkennen. Und das einzige Geräusch war ein fernes Rauschen, das vielleicht von einem Wasserfall, ebenso gut aber auch vom Rauschen seines Blutes in den Ohren herrühren konnte. Und wenn er es sich recht überlegte, war die zweite Möglichkeit die wahrscheinlichere von beiden.
    Hihi, wir sind gefangen, gefangen, sang Nummer drei und war augenscheinlich glücklich. Wir sind gefangen und keiner wird uns ver- missen, hihi. Und jetzt bleiben wir hier und verhungern und verdursten und ersticken und werden waaaaahnsinnig! Hihi.

7
    07:17 Uhr, Krankenhaus Donaueschingen, Intensivstation
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    Reichlich zwei Stockwerke über Thomas Bachmanns Gefängniszelle zwischen Erdgeschoss und Keller befand sich die Intensivstation des Krankenhauses. Erwartungsgemäß waren die Notstromaggregate der Klinik angesprungen. Sie hatten nach dem Stromausfall Punkt 07:00 Uhr nur kurz gezögert, einmal kräftig durchgehustet und waren schließlich zuverlässig wie ein Schweizer Uhrwerk zum Dienst angesprungen. Seitdem dröhnten im Wirtschaftshof die kraftvollen Dieselmotoren und versorgten die wichtigsten Lebensadern der Klinik mit Elektrizität. Auf den langen, kahlen Fluren brannte nur

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