Rattentanz
Sie klatschte auf die Straße, genau vor Evas Füße, und kaum, dass sie Zeit hatte, sich danach zu bücken, stand Thomas schon neben ihr und kam ihr zuvor. Überglücklich strahlten seine tief liegenden Augen. Er drückte die Tasche an seine Brust wie einen wiedergefundenen geliebten Menschen.
Zum Abschied gab Eva der Familie ein schon ziemlich hartes Brot und zwei in Plastik eingeschweißte Käse, alles aus dem ehemaligen Krankenhausbestand. Dann zog jeder seiner Wege, Yilmaz Özdemir über den Bus hinweg einer ungewissen Zukunft in Villingen entgegen, Eva, Beck und Thomas weiter Richtung Bonndorf und Wellendingen.
»An eurer Stelle würde ich Bonndorf umgehen«, riet Razim, nachdem er sich ein wenig von seinem Abenteuer erholt hatte. Auf Evas Karte zeigte er ihnen, wie sie über Feldwege und durch einen kleinen Wald problemlos an Bonndorf vorbei direkt nach Wellendingen kä men. »Ist außerdem fast noch eine kleine Abkürzung.«
»Ich kenn den Weg«, sagte Eva. »Als Kinder haben wir oft dort oben auf dem Hardt gespielt. Und Orchideen gepflückt.«
Am tiefsten Punkt der Wutachschlucht führte sie eine breite Brücke über den wild rauschenden Gebirgsfluss hinweg. Auf der anderen Seite begann die Straße ihren gewundenen Aufstieg nach Ewattingen. Sie wuschen sich im klaren kalten Fluss, füllten drei Flaschen mit Wasser und marschierten weiter, aber nicht der Straße nach. Sie bogen nach rechts ab, laut Karte ein Weg, auf dem sie das Dorf umgehen konnten. Als sie nach zwei Kilometern steilem Aufstieg endlich die Schlucht verlassen und wieder offenes Land vor sich hatten, rasteten sie am Waldrand. Thomas aß einen Apfel, während Beck mit dem Versuch, eine Wurstbüchse zu öffnen, kläglich scheiterte. Die Verbände, die Eva ihm angelegt hatte, störten und immer wieder rutschte der Büchsenöffner ab.
»Lass mich das machen«, sagte sie und nahm Beck Büchse und Öffner aus der Hand.
Evas Arme schmerzten von der ungewohnten Anstrengung, sie hatte den Handwagen aus Rücksicht auf Becks Verletzungen fast im Alleingang aus der Schlucht heraufgezerrt und alle Angebote Becks, ihr zu helfen, abgelehnt. Jetzt saß sie neben ihren Begleitern zwischen weißem Wiesenschaumkraut und dem strahlenden Lila erster Storchschnabelblüten, dazwischen gelber Hahnenfuß. Eva genoss die Pause, die Ruhe und die warmen Sonnenstrahlen, mit denen die Nachmittagssonne so freizügig war.
»Hier«, sie legte ihr Brot zur Seite und kramte zwei Tabletten aus dem Medikamentenmüllsack. »Nimm die hier. Die Wunden an deinen Händen sind zwar nicht sonderlich tief, entzünden könnten sie sich aber trotzdem, vor allem«, Gänsehaut lief ihr über den Rücken, »vor allem die beiden rausgerissenen Fingernägel.«
Beck schluckte folgsam das Antibiotikum – zwei große, weiße Tabletten.
»Willst du ihn«, Eva wusste, wen er meinte, »wirklich mitschleppen?«
Sie nickte mit vollem Mund. »Was soll ich denn machen?«
Thomas, über den sie redeten und der außer Hörweite über die Wie se lief, betrachtete seine Umgebung mit dem Interesse eines Forschungsreisenden. Noch nie war er, ohne dass unter dem Einfluss starker Medikamente die Stimmen in seinem Kopf mundtot gewesen wä ren, über eine Wiese wie diese hier gelaufen. Ohne seine Stimmen war es nur Gras, was er sah. Aber jetzt, jetzt zeigten die drei ihm alle Geheimnisse, die sich hier verbargen. Es war ihm eine Offenbarung, sich von dem, was sie ihm präsentierten, herumführen zu lassen, zu Blüten, die jemanden in seinem Kopf an französische Lilien erinnerten, zu Farben, die Nummer eins zufrieden träumen ließen, zu Formen, in denen Nummer drei Anzeichen der bevorstehenden Apokalypse entdeckte.
»Er würde sich verlaufen ohne uns, nicht nur hier, vor allem wohl in seinem Kopf. Ohne unsere Hilfe, Joachim, wird er nicht überleben. Wir haben ihn befreit und bis hierher mitgenommen, er vertraut uns und er hat dir das Leben gerettet. Wir sind für ihn verantwortlich.«
»Du vielleicht, ich nicht. Außerdem: bevor er mein Leben gerettet hat, haben wir ihn gerettet. Wir wären also quitt.«
»Blödsinn«, sie warf ihm einen Blick zu, der mehr war als Missbilligung oder Kritik. »Quitt, als ob es das gäbe. Wenn wir anfangen, ei ner dem anderen die guten oder schlechten Taten aufzurechnen, brauchen wir gar nicht weitergehen, du jedenfalls nicht. Oder was würdest du davon halten, wenn ich jetzt damit anfange? Zuerst habe ich dich versteckt. Später neue Kleider gegeben und, als du
Weitere Kostenlose Bücher