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Rattentanz

Titel: Rattentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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zurückgekommen bist, unseren Arzt dazu gebracht, deine Hand zu versorgen.«
    »Ja, hör auf, du hast ja recht.« Beck schloss die Wurstbüchse, er hätte drei davon verschlingen können, und verstaute sie auf dem Wa gen. »Es ist ja auch nicht, dass ich Thomas nicht helfen will. Aber wenn ich vor der Entscheidung stünde, sein oder dein Leben zu retten, würde ich mich natürlich für dich entscheiden.«
    »Wieso ›natürlich‹? Ist er weniger wert, nur weil er nicht so tickt wie du und ich? Und welchen Wert hatte dann die Familie eben? Wo rangieren Türken auf deiner Wertigkeitsskala?«
    »Jetzt verdreh mir nicht das Wort im Mund!« Beck hatte die Stim me erhoben und Thomas sah zu ihnen herüber. »Ich habe weder was gegen Ausländer noch gegen, gegen …«
    »Behinderte?«
    »Richtig. Aber es ist nun einmal so, dass, wenn wir weiterhin so gü tig durch die Weltgeschichte laufen, unsere Chancen nicht gerade steigen. Wenn er wenigstens irgendwas Sinnvolles beitragen könnte, zur Abwechslung vielleicht auch einmal den Handwagen ziehen oder so, dann …«
    »… könnte man das gut gegen seine Defizite aufrechnen. Wolltest du das sagen?«
    »Nicht wortwörtlich, aber so ungefähr.« Eva stand auf und sah zu Thomas hinüber, der sich immer weiter entfernte.
    »Hätten wir ihn unterwegs irgendwo zurückgelassen, wärst du jetzt tot.«
    Er sah sich ebenfalls zu Thomas um und nickte. Sie hatte recht, mit jedem Wort. Aber trotzdem. Er ärgerte sich, dass er, was er eigentlich sagen wollte, nicht so ausdrücken konnte, dass es verständlich und klar bei Eva ankam. Er mochte Thomas sogar ein ganz klein wenig, es stand aber zweifelsfrei fest, dass der sie Zeit und Vorräte kostete und selbst nichts zu ihrer kleinen Gemeinschaft beitrug. Er war sozusagen der Luxus innerhalb ihrer winzigen Gesellschaft. Beck hatte das Gefühl, dass es noch lange dauern konnte, bis die Lichter wieder angingen, Geschäfte und Tankstellen wieder öffneten, vor allem aber: bis die Men schen wieder Vernunft annahmen. Und bis dahin ging es, so fremd sich dies auch für einen verwöhnten Mitteleuropäer anhören mochte, ums nackte Überleben. Der Querflötenunterricht war unwichtig, ebenso der wöchentliche Kegelabend, das allabendliche Joggertreffen war abgesagt, genauso wie die Reit- und Tennisstunden. Und seiner Meinung nach ganz bestimmt auch alle Auswüchse unangebrachter Barmherzigkeit. Thomas mitzuschleppen war barmherzig. Und dumm. Was wollte sie mit ihm in ihrem Dorf machen?
    Sie packten ihre Sachen zusammen. Es war inzwischen kurz nach vier und die Sonne schon merklich tiefer gesunken. Sie hatten länger gerastet als eigentlich vorgehabt und waren weniger schnell vorangekommen als am Morgen noch so optimistisch geplant, aber sie hatten die Pause gebraucht, vor allem Beck.
    Eva ging über die Wiese zu Thomas. Die schwarze Aktentasche unter dem Arm, kauerte der neben einer Blume und betrachtete ein Insekt, das über zarte Blätter krabbelte. Als er Eva näher kommen hör te, richtete er sich auf und schraubte schnell den Verschluss auf seine Thermosflasche. Seit ihrer kurzen Pause an der Wutach befand sich in ihr endlich wieder kristallklares Wasser.
    »Komm, Thomas, wir müssen weiter.« Eva nahm ihn am Arm und führte ihn zurück zum Wagen. Dort nahm sie Beck die Deichsel aus der Hand und legte sie in Thomas’ Hände. Und gemeinsam zogen sie nun den Wagen über einen holprigen Feldweg, an Ewattingen vorbei und Joachim Beck folgte ihnen langsam und in Gedanken versunken.
    Gegen sechs kamen sie nach Münchingen. Jetzt waren es nur noch wenige Kilometer bis Wellendingen. Eva hielt es kaum noch aus. Wie ging es Lea? War Hans zurück? Gab es irgendwelche Nachrichten? Am liebsten hätte sie Beck, den Handwagen und auch Thomas stehen lassen, um zu rennen, zu rennen und zu rennen und erst mit Lea in den Armen wieder anzuhalten.
    In dem kleinen Dorf, das sie durchquerten, war bisher offenbar noch niemand auf die Idee gekommen, die Straßen zu versperren. Sie konnten Münchingen unbehindert passieren. Bis auf eine alte Frau, die ihre rheumatischen Knochen von der Abendsonne wärmen ließ, schien das Dorf wie ausgestorben. Die Alte erzählte ihnen, dass so ziemlich alle Einwohner des Ortes ein Stück außerhalb damit beschäftigt waren, den längst verschütteten alten Brunnen ihrer Vorfahren zu finden und, wenn möglich, wieder nutzbar zu machen. Das winzige Rinnsal, welches den Ort durchquerte, reichte vorn und hinten nicht aus, um Mensch und Vieh

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