Rattentanz
Ecke der Hütte. Er sprang vor Eva zurück, stolperte dabei über ein paar im Halbdunkeln liegende Stangen Holz und schlug der Länge lang auf den Rücken. Die Aktentasche flog ihm aus dem Arm, genau vor Becks Füße.
Das Miststück will uns an die Wäsche!
Die Tasche! Unsere Tasche!
Beck hob die Tasche auf. Thomas, der in der größer werdenden, aus seinen Kleidern tropfenden Wasserlache saß, beobachtete jede von Becks Bewegungen.
»Entweder ziehst du dich jetzt aus oder …« Beck tat, als wollte er die Aktentasche öffnen.
»Nein!«, schrie Thomas und sprang auf die Beine. Er wollte zu Beck stürzen und ihm die Tasche entreißen, aber der ging sofort einen kleinen Schritt zurück und versteckte die Tasche hinter seinem Rücken.
»Ausziehen!«, befahl er.
»Los, Thomas, mach jetzt. Bitte.«
Sie hat »bitte« gesagt.
Thomas drehte den Kopf zu Eva hin und blickte ihr zum ersten Mal direkt in die Augen. »Bitte« hatte seit Jahren niemand mehr gesagt. Jedenfalls nicht zu ihm. Es hatte ehrlich geklungen.
Ohne ein weiteres Wort, ohne jede eigene Bewegung, ließ er sich von Eva ausziehen. Hemd, Hose, Unterwäsche. Dabei ließ er Beck keine Sekunde aus den Augen. Als ihm Eva dann endlich die verblei-bende Decke um die Schultern gelegt hatte, bekam er seine Tasche zurück und setzte sich schmollend auf ein leeres Ölfass, das auf dem Kopf stand.
Zwei der Holzstangen, über die Thomas gerade eben noch gestolpert war, legte Beck quer über die Balkenkonstruktion der Scheune. Darüber breiteten sie ihre Sachen zum Trocknen aus. Der Sturm heulte dazu um das schwankende Gebäude wie ein Raubtier, das nach einem Weg sucht, die in der Falle sitzende Beute endlich zu reißen.
Plötzlich flog das Tor auf! Peng, schlug es mit voller Wucht gegen die Außenwand und peng!, trieben es die Elemente wieder zurück. Beck bekam es gerade noch zu fassen, bevor es erneut aufflog. Er hatte Mühe, sich gegen den Gewittersturm zu behaupten, doch dann überlegte der es sich anders und warf das Tor und Beck zurück. Regen peitschte auf das Dach, aber wenigstens war es dicht.
»Schnell, gib mir das Seil.«
Beck band das Tor von innen zu, während draußen Blitze zuckten und aus allen Richtungen gleichzeitig Donnergrollen anrannte. Erschöpft setzte er sich nach dem dritten Knoten auf einen Balken.
»Hier, trink was.«
Er nahm die angebotene Flasche und trank – viele, tiefe Züge.
»Ich wusste gar nicht mehr, wie gut Wasser schmecken kann.«
Die Scheune, in die sie sich geflüchtet hatten, wurde durch einen Bretterboden in zwei niedrige Etagen unterteilt. Unten lagen einige leere Ölfässer und Hölzer, an der Seite stand ein verrosteter Pflug. Ei ne schmale, offensichtlich schnell zusammengezimmerte Leiter führte durch eine breite Öffnung auf einen winzigen Heuboden darüber. Von reichlich Staub, den der durch die Scheune pfeifende Wind immer wieder neu aufwirbelte, und einem kleinen Haufen altem Heu abgesehen, war der Boden leer.
»Hier oben könnten wir schlafen«, rief Beck hinunter. »Ist sogar noch etwas Heu da als Unterlage. Oder hast du Heuschnupfen?« Er sah durch die Luke zu ihr hinunter, sie schüttelte den Kopf.
»Ich will hier nicht schlafen«, sagte Eva. »Ich will zu Lea.«
Sie beobachtete Thomas, der mit seiner Tasche noch immer auf dem Ölfass saß – ein Fakir, weltfremd und zu etwas anderem berufen als nur zum bloßen Leben. Zu gern hätte sie gewusst, was im Kopf dieses Mannes vorging, was er erlebt hatte, was ihn zu dem gemacht hatte, was er heute war. Wer er war.
»Die Alte vorhin hat recht behalten«, sagte Beck, »die Regentonnen dürften morgen früh nun wirklich überall voll sein.«
Bis auf die Knochen durchweicht saß Hermann Fuchs in einem kleinen Wäldchen. Von da aus hatte er freien Blick auf die Feldscheune, in der seine Beute saß. Er hatte sich seinen Mantel über den Kopf gezogen, damit ihm das Wasser wenigstens nicht mehr als Sturzbach ungehindert den Nacken hinunterlief. Seine Zigaretten waren durchgeweicht und das Bier zu kalt. »Heißer Tee mit Rum wäre gut«, murmelte er und klapperte dazu mit den Zähnen.
Die vierundzwanzig Grad vom Nachmittag hatten sich mindestens halbiert, schätzte er. Mindestens. Von den Zweigen über ihm tropfte Wasser und der Sturm peitschte immer wieder Nachschub in Fuchs’ Gesicht. In der Stadt hätte er sich jetzt in ein Gartenhaus oder die stinkende Bahnhofsunterführung zurückziehen können, aber hier? Das einzige feste Gebäude weit und breit war
Weitere Kostenlose Bücher