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Rattentanz

Titel: Rattentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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Meinung, dies alles sei einfach nur ein Unfall, eine von Menschen gemachte Unpässlichkeit, die früher oder später schon wieder ins Lot kommen würde. Küh ne hingegen war sich da nicht so sicher. Für ihn geschah nichts ohne Gottes Willen und somit hatte jedes Ding und jede Bewegung im Welt geschehen auch einen Sinn. Dass dieser sich einem unvollkommenen menschlichen Geist nicht immer in seiner ganzen Komplexi-tät und Schönheit offenbarte, war ihm klar, hinderte ihn aber nicht an dem Versuch, diesen Sinn zu erkennen.
    Fräulein Guhl brühte ihrem Pfarrer den morgendlichen Schwarztee auf und gab einen Schuss Sahne hinzu, so wie er es liebte. Nur auf sein Weißbrot würde er heute verzichten müssen, stattdessen gab es Knäckebrot.
    Die Haushälterin hatte einen kleinen Campingkocher und die dazugehörende Gasflasche aus dem Keller geholt. Beides lag noch von letztem Sommer dort, als Kühne − wie übrigens jedes Jahr − mit den Ministranten seiner Gemeinde drei Tage in einem Zelt hinter dem Pfarrhaus gelebt hatte. Fräulein Guhl fand dies immer albern und et was für kleine Jungen, aber für einen Pfarrer gehörte sich dies nicht. Fand er nicht und freute sich jedes Jahr wieder neu (wie ein kleiner Junge) auf die drei Tage im Zelt, abendliche Lagerfeuer und gemütliche Spaziergänge. Er wollte den Kindern Gottes Schöpfung näherbringen; seltene Pflanzen, Tiere und das Knistern verbrennenden Holzes, das mehr von Gottes Plan offenbarte als alle Predigten oder Christusfilme zusammen. Kühne war der Meinung, dass die Schöpfung nur vor Ort, sozusagen im Feldversuch, entdeckt werden konnte, vom Verstehen ganz zu schweigen. Dazu, sagte er immer, wären sie alle viel zu kleine Lichter.
    War das Leben nicht ein einziger Kreislauf aus Geburt, Wandlung, Tod und Auferstehung? Ein Baum wächst, wird geschlagen und verbrannt und ersteht neu in einem prasselnden Feuer, welches Wärme und Licht spendet. So wie Jesus Christus.
    »So, wie das noch immer regnet, werden Sie Stiefel tragen müssen, Herr Pfarrer.«
    Anna-Maria Guhl stand am Fenster. Es wollte einfach nicht hell werden an diesem Morgen, Wolken hingen tief über Wellendingen. Der Wind hatte sich zum Glück im Laufe der Nacht gelegt, nicht aber der Regen.
    »Wird ziemlich schlammig sein dort oben.«
    Schon als die Gewitterfront am Vortag über das Dorf gezogen war, hatte sie ihn zu einem Gottesdienst in der Kirche zu bewegen versucht. Aber Kühne hatte abgelehnt. An ihrem Grab zu stehen, sei man den Toten schuldig.
    Er ließ sich seine Notizen geben. Bis spät in die Nacht hinein hatte er an der Predigt gearbeitet. Es war ein fast nicht zu schaffender Spagat zwischen Trauer um die vielen Toten des Flugzeugabsturzes, der Verwirrung, die die Menschen seitdem überfallen hatte und einem Lichtblick am Horizont. Er wusste, dass man von ihm Hoffnung erwartete und Trost, nicht unbedingt einen Ausweg, aber Hoffnung. Gott gab diese Hoffnung, aber nur denen, die sie sehen und verstehen wollten. Seine Aufgabe dabei war, diese Hoffnung zu formulieren und zu den Menschen zu transportieren.
    In den Tagen seit der Katastrophe war er immer wieder zu denen gegangen, die sonst niemanden hatten und allein hier lebten – vor allem Ältere und Kranke. Einige waren auch zu ihm gekommen, mit ihrer Unsicherheit und der Frage, die wie ein ehernes Gesetz früher oder später in jedem Gespräch auftauchte, dieser Frage nach dem Wa rum.
    Warum funktioniert nichts mehr?
    Warum mussten die Flugzeuge abstürzen?
    Warum gerade jetzt, warum gerade wir?
    Warum lässt Gott das zu? Dies war das wichtigste Warum. Und gleichzeitig das unergründlichste.
    Fräulein Guhl war gestern Nachmittag ohne sein Wissen im Dorf herumgegangen und hatte um Lebensmittel für den Herrn Pfarrer (und sich) gebeten. Mit mäßigem Erfolg. Eine Kanne Milch, eine Handvoll Kartoffeln, zwei Eier und etwas fleckiges Obst waren alles.
    »Was meinen Sie, Fräulein Guhl, wird man uns behalten wollen? Behalten können?« Die Frage hatte ihn die ganze Nacht beschäftigt. Konnte sich eine Gemeinschaft in einer solchen Notzeit den Luxus geistiger Erbauung leisten? Brauchte man wirklich einen Pfarrer? Bei Bedarf stand es jedem frei, selbst in der Bibel zu lesen oder seinen Nach barn um Rat zu fragen, wo war dann noch seine eigene Legitima tion?
    Die Frage machte ihm Angst, oder besser: die unsichere Antwort darauf.
    Fräulein Guhl zuckte die mageren Schultern. »Was weiß denn ich, Herr Pfarrer. Ich weiß nur, dass unser Herrgott Sie

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