Rattentanz
nicht im Stich lassen wird. Wir werden schon irgendwie zurechtkommen.«
»Ihr Wort in Gottes Ohr, meine Liebe.«
Sie schenkte ihm Tee nach. Seit sich ihre Vorräte dem Nullpunkt näherten, hatte sie selbst immer wieder über eben diese Frage nachgedacht. Sie und der Pfarrer würden im Dorf mitanpacken müssen, was auch immer als Nächstes kam. Oder aber doch die sonntägliche Kollekte zukünftig für sich selbst verwenden. Der Pfarrer hatte gestern Abend diesen Vorschlag zwar abgelehnt – seiner Meinung nach stand die Kollekte denen im Dorf zu, die es am nötigsten hatten – aber in ein paar Tagen würden sie selbst zu eben diesen Personen gehören, die es am nötigsten hatten. Dass eine aus Bargeld bestehende Kollekte momentan allerdings wertlos und nicht essbar war – daran hatte bisher keiner von beiden gedacht.
Kommt Zeit, kommt Rat, war die Devise der Haushälterin, und da mit war sie bisher nicht schlecht gefahren. Man wird sehen, was das Mor gen bringt. Der Vorteil einer Gemeinschaft war, dass die persönlichen Kontakte und Bindungen innerhalb dieser Gemeinschaft es den einzelnen Mitgliedern schwer machte, einen in Not Geratenen aus ihrer Mitte abzuweisen. Und schon gar nicht das geistliche Haupt dieser Gemeinschaft. Es war bestimmt nicht leicht, einer durchreisenden Familie die Bitte um etwas Essbares abzuschlagen, aber es war möglich. Sollte jedoch der Pfarrer, der jahrelang in ihrer Mitte gelebt hatte, der ihre Kinder getauft und am Grab ihrer Alten gestanden hatte, der ihre Ehen segnete, sollte dieser Pfarrer in Not geraten, konnte die Gemeinschaft nicht wegsehen, da war sich Anna-Maria Guhl sicher. Und dies beruhigte sie.
»Hoffentlich sind die Jungs pünktlich.«
»Bestimmt, Herr Pfarrer, sie haben es Ihnen versprochen.«
Kühne erwartete zwei Halbwüchsige, die sich bereit erklärt hatten, die Glocke zu läuten. Bardo Schwab hatte gestern die größte der drei Glocken der Dorfkirche mit einer abenteuerlichen Konstruktion versehen, ein Seil daran befestigt und schwor Stein und Bein, dass dies funktioniere. Kühne konnte ihn gerade noch davon abhalten, es auszuprobieren. Erst heute sollte der tiefe Ton der großen Glocke wieder rufen, zum Trauergottesdienst.
Er erhob sich und sah auf die Uhr. Es war kurz vor sieben, genügend Zeit, die Predigt noch einmal in aller Ruhe durchzugehen. Frieder Faust stieg in seinen Pick-up und fuhr vom Hof. Er war der Einzige, der heute seinen Wagen benutzte, alle anderen gingen zu Fuß aufs Hardt.
Beim Frühstück eben hatte er wieder die Zeitung vom 23. Mai vor sich auf dem Tisch liegen, obwohl er jedes Wort inzwischen schon drei mal gelesen haben musste. Aber es war nun einmal so, dass ein Frühstück ohne Radio und Zeitung kein Frühstück war. Beim Radio konnte er nichts machen, die Zeitung aber musste sein. Heute war der erste Tag, an dem er nicht sofort nach dem Aufstehen das Radio ange stellt und danach einige Sekunden gebraucht hatte, die neue Wirklichkeit in sein Bewusstsein zu holen. Ohne darüber nachzudenken war er am Radio vorbeigegangen und damit offensichtlich in dieser neuen Welt angekommen. Das beunruhigte ihn.
Faust fuhr zu Pfarrer Kühne, der ihn schon im Gemeindesaal, im Erdgeschoss des Pfarrhauses, erwartete. Gemeinsam luden die beiden Männer einen kleinen Altar auf Fausts Wagen, den die Pfarrei für die seltenen Gottesdienste im Freien, meist Erntedank, besaß. Kühne trug ein schwarzes Kollarhemd und einen schwarzen Anzug. Er hatte lange gezaudert, sich dann aber doch entschlossen, den kleinen Altar zu benutzen. Normalerweise stand der Pfarrer bei einer Beerdigung am offenen Grab und was er sagte, stand im Bezug zum Verstorbenen. Heu te aber würde er vor mindestens dreihundert Menschen sprechen, Men schen, die keine Grabesrede sondern Hoffnung erwarteten. Er hat te Angst, all den Menschen gegenüberzutreten, in ihre Augen zu schauen und vielleicht zusehen zu müssen, wie die anfängliche Erwartung in ihnen während seiner Predigt langsam schwand und sich in Enttäuschung wandelte. Deshalb wollte er den Altar – nicht als Schutzschild, sondern als Halt brauchte er ihn.
Während der Pfarrer, seine Haushälterin, die im letzten Moment noch an seine Stiefel gedacht hatte, und Faust aufs Hardt hinausfuhren, half Lea Susanne Faust, ihrem Gast einen von Fausts alten Mänteln anzuziehen.
»Passt doch«, rief Lea und hüpfte um Eckard Assauer herum.
»Passen ist was anderes. Aber es wird gehen«, sagte Susanne. Assauer war der schwarze
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