Rattentanz
Mantel eindeutig mindestens zwei Num mern zu groß. Und auch der Rest − Fausts Schuhe, Hose und Pullover − passten nicht. Aber er hatte die allmorgendliche Ankleideproze dur wie immer über sich ergehen lassen. Er war zwar anwesend, aber nicht hier.
»Wollen wir ihm eine Blume ins Knopfloch stecken?«
»Nein Lea, bestimmt nicht.« Dann stockte Susanne plötzlich mitten in der Bewegung und schien über etwas nachzudenken. »Aber wenn du willst, kannst du draußen im Garten einen kleinen Blumenstrauß pflücken. Für das Kind, das er im Arm hatte, als Bubi ihn fand.« Lea stürmte davon. »Aber nimm einen Schirm mit!«
Faust hatte Lea erst gestern Abend erzählt, dass ihr Gast einen Jungen, nur ein paar Jahre älter als sie selbst, im Arm trug, oben, wo die Maschine abstürzte. Lea hatte wissen wollen, wer dieser Junge war, seinen Namen und wo die Mutter sei, Fragen, die ihr niemand beantworten konnte. Heute Morgen, es war noch dunkel, hatte Lea Susanne und Frieder Faust geweckt. »Wäre es nicht besser, Herr Mittwoch wür - de auch sterben?«, fragte sie. »Dann wäre der kleine Junge nicht so allein. Und Herr Mittwoch würde vielleicht wieder anfangen zu sprechen, wenn er bei dem Kind im Himmel ist.«
Eugen Nussberger hustete sein morgendliches Hustenritual. Er riss das Fenster auf und spuckte in weitem Bogen in den Garten. Fast hätte er das Grab seiner Schwester getroffen.
»Wenn ich nicht bald ein paar Zigarren auftreibe, werd ich noch verrückt!«
Er, der sonst die Ruhe selbst war, lief wie ein gefangenes Tier durch die Küche und öffnete wohl schon zum vierten Mal an diesem Morgen sämtliche Schränke und Schubladen auf der Suche nach einer seiner geliebten Zigarren. Er suchte dort, wo sie immer deponiert waren – linker Schrank, ganz oben rechts – und er suchte mit der Hoffnung des Verzweifelten an Stellen, von denen er ganz genau wusste, dass da nichts zu finden war: in den anderen Schränken, im Mülleimer, Kühlschrank, hinter der Mikrowelle und unterm Sofa.
Gestern, nachdem er die letzte Zigarre geraucht hatte, bis sie ihm die Lippen verbrannte, hatte er die Mülltonne im Hof ausgeschüttet und jeden Stummel herausgesucht, der noch ein oder zwei tiefe Züge versprach. Das, was danach noch übrig gewesen war, hatte er fein zerbröselt und in einer Pfeife geraucht, die ihm seine Schwester vor etli chen Jahren einmal in der Hoffnung geschenkt hatte, ihn zum Pfeifen raucher machen zu können. Adelheid fand Pfeifenrauch, am besten Va nille, tausendmal angenehmer als die stinkenden Stumpen ihres Bruders.
»Hab ich im Schlafzimmer nachgesehen?«, fragte er sich laut. Er hatte. Bereits dreimal und jedes Mal hatte er kurz danach noch einmal alles untersucht, als könne er sich selbst nicht trauen.
Wäre doch Adelheid da.
Er hatte seinen Sonntagsanzug angelegt. Aber wo waren die Zigarren?!
Trink jetzt deinen Kaffee, bevor er kalt wird. Wir müssen bald los, hätte Adelheid jetzt gesagt, wäre sie noch da.
»Ich komm nicht mit«, antwortete ihr Nussberger und erschrak. Er führte Selbstgespräche!
Wenn er jetzt etwas wollte, dann bestimmt nicht das scheinheilige Geschwafel eines Pfaffen. Was sollte der schon Neues verkünden? Die Toten waren tot und der liebe Gott würde sie natürlich gnädig aufnehmen. Und zum Schluss bestimmt noch ein tröstliches Wird-schonwieder. Von wegen!
Stell dich nicht so an, Eugen. Alle werden da sein, das ganze Dorf, hörte er Adelheid.
Es war zum Verrücktwerden! Wieso hatte er Anfang der Woche nicht mehr gekauft? Man sollte immer einen größeren Vorrat im Haus haben! Ob in Bonndorf vielleicht in einem der Läden noch etwas zu holen war? Nussberger ging ins Wohnzimmer und sah sich um. Nach dem Überfall hatte er gestern alles wieder aufgeräumt und an seinen Platz gestellt. Nur das Staubsaugen würde noch ein, zwei Tage warten müssen. Hier war nichts. Aber trotzdem: wo könnte noch etwas stecken? Zwischen den Sofakissen? Nein. Hinter dem Fernseher? Natürlich nicht. Selbst hinter den wenigen Büchern, die in einem großen Regal im Wohnzimmer standen, nur gähnende, staubige Leere.
Seine Kleider!
Er machte kehrt, ging ins Schlafzimmer, riss alle Schranktüren auf und kontrollierte jede Jacke, jeden Mantel, jedes Sakko.
Vielleicht triffst du auf der Beerdigung jemanden, der noch etwas zu rauchen dabei hat?
Eugen Nussberger hielt mitten in der Bewegung inne. Er überlegte eine Sekunde, dann warf er die Jacke, die er gerade zwischen seinen Händen zerdrückte,
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