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Rattentanz

Titel: Rattentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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Jede richtige Freundschaft beginnt schließlich so, stimmt’s, Jungs? Alles beginnt doch mit dem Vertiefen, oder?«
    Beide nickten.
    Thomas versuchte der Situation dadurch zu entfliehen, dass er sie, wie ein kleines Kind, einfach nicht mehr wahrnahm. Er sah die in sich gewundenen Steinsäulen des Pavillons, aber nicht mehr die beiden Säulen ihrer plötzlich nackten Beine, er sah die Wölbung der steinernen Decke, aber nicht die Wölbung ihres Bauches.
    »Los! Leck mich, Kleiner!« Pickelfresse, das geilste Stück der Umgebung mit gefärbten Haaren und Dreck unter den Fingernägeln, das hässliche Mädchen, lag mit gespreizten Beinen neben ihm. Als er keine Anstalten machte, ihren Wunsch zu befolgen − Nummer eins und Nummer zwei hielten ihm fürsorglich die Ohren zu −, wurde er hochgerissen und vor ihr auf die Knie gezwungen. Sie packte seinen Kopf, er hielt die Augen fest geschlossen und dachte an die Geburtstagstorte, die daheim auf ihn wartete, und sie drückte sein Gesicht fest zwischen ihre Schenkel. Sie stöhnte und Thomas musste an verdorbenen Fisch denken.
    Das Letzte, woran sich Thomas erinnern konnte, waren die Worte des Großen: »Erst ich, dann du. Okay?« Dann zerrte ihm jemand die Hose runter, während sie sich an ihm rieb.
    Als er seine Umgebung an diesem achtzehnten Geburtstag wieder wahrnehmen konnte, war es dunkel. Er saß auf einer verwitterten Bank unweit des Pavillons, den die Nacht inzwischen vollkommen verschlungen hatte. Er fror. Er saß da und wunderte sich über die Kälte − Hose und Unterhose hingen verloren um seine Knöchel herum − und urinierte. Die Wärme an seinem Bein tat gut, obwohl eine ferne Erin nerung sagte, dass man dies nicht tat. Dann fühlte er den Schmerz.
    Dann fühlte er die Schmerzen! Denn sie waren zu zweit: ein körperlicher und ein seelischer Schmerz. Letzter wog schwerer, wieso auch immer.
    Vielleicht, weil du jetzt nicht mehr Jungfrau bist, hihi? Eine damals noch fremde Stimme schepperte durch seinen Kopf.
    Was willst du hier?!, donnerte Nummer eins.
    Geh weg, geh weg!, erwachte auch Nummer zwei. Ihre Panik war unüberhörbar.
    Die neue Stimme ignorierte beide und wandte sich sofort wieder an Thomas: Jaaa, jetzt bist du richtig erwachsen! Tut’s weh? Och, … (dann ein hysterischer Lachanfall) Und alles wird noch viel, viel schlimmer. Hm, das hier war erst der Anfang, die Spitze eines gigantischen Eisberges. Aber ich weiß Hilfe, flüsterte der Neue. Ich kenne einen Ausweg. Komm mit! Da vorn fließt die Donau, da ist das Wasser und da werden wir alle frei sein, hihi, sooooo frei, endlose Freiheit wartet auf uns …
    Thomas wälzte sich auf dem Heu und versuchte im Schlaf, die Erinnerungen abzuschütteln. Aber Nummer drei zerrte sie Nacht für Nacht, Tag für Tag wieder empor aus den verdrängenden Tiefen seines Unterbewusstseins und rief: »Na, Kleiner, hast du Lust? Hast du Lust, mein Süßer?«

61
    26. Mai, 06:21 Uhr, Wellendingen
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    Samstag. Pfarrer Jakob Kühne war Frühaufsteher. Obwohl sich sein Naturell danach sehnte, die Nacht bis zum Mittagsläuten auszudehnen und den folgenden frühnachmittaglichen Morgen im Bademantel und mit einem Buch bei einem zweistündigen Frühstück zu verbringen, stand er, einem gut geölten Uhrwerk gleich, täglich kurz vor sechs am Fenster. Er betete still und suchte dabei die kleine Straße nach dem Zeitungsjungen ab. Dessen Auftauchen war das erste Amen des neuen Tages und zugleich Startschuss für den Gang ins Bad. An diesem Samstagmorgen aber würde der Junge wieder nicht kommen, das wusste Kühne. Trotzdem hielt er nach ihm Ausschau.
    Die gute Seele der geräumigen Pfarrei, Fräulein Anna-Maria Guhl, war bereits in der Küche zugange. Sie war groß, spindeldürr und wuss te, wie man einen Pfarrhaushalt führte. Kühne, gemütlich und mit einem Hang zur Faulheit, weckte ihren Mutterinstinkt. Seine manchmal fast peinliche Unbeholfenheit und die Unfähigkeit, sich irgendetwas zu merken, ließen Fräulein Guhls beste Seite aufblühen. Und nach der Führung des Haushaltes hatte sie mehr oder weniger auch die Leitung der Pfarrei übernommen und Pfarrer Kühne ließ sie nur allzu gern gewähren.
    Kühne putzte sich die Zähne und spritzte aus einem Eimer, der in der Badewanne stand, etwas Wasser in sein Gesicht. Mit dem restlichen Wasser spülte er sein morgendliches Geschäft in die Kanalisation. Ist dies eine Prüfung, überlegte er, während er sich anzog, oder eine zeitgemäße Sintflut? Fräulein Guhl war der

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