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Rattentanz

Titel: Rattentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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begrüßte diesen und jenen mit Handschlag, zuletzt den Pfarrer.
    »Viel Glück, Herr Pfarrer.«
    In diesem Moment war es neun Uhr. Unten im Dorf, in der kleinen Wellendinger Kirche, zogen zwei Halbwüchsige mit aller Kraft an ei nem dicken Seil. Weit über ihren Köpfen versetzten sie so die größte der drei Glocken langsam in Bewegung.
    Eva, Joachim Beck und Thomas versteckten sich hinter einer der ab gerissenen Tragflächen. Sie hatten sich dem seltsamen Schauspiel un entdeckt bis auf etwa zweihundert Meter genähert. Nur einen Stein wurf hinter ihnen duckte sich Fuchs hinter einem Sessel aus der ersten Klasse.
    Eva war die Erste, der das Gewirr aus Menschen und Regenschirmen, das sich nach und nach aus dem Regengrau dieses Morgens schälte, aufgefallen war. Es schien, als ob die Passagiere der abgestürzten Maschine vor ihnen zwischen den Trümmern auf etwas warteten, sich versammelt hatten, um zu beratschlagen, wie es nun weitergehen sollte. Sie verstand nichts.
    Dann läutete plötzlich eine Glocke, tief und aus weiter Ferne. Es war ein gespenstischer Ton, ein trauriger Ton.
    Thomas richtete sich auf und sah zu der Versammlung hinüber.
    »Die Glocke des Todes«, wiederholte er die Worte, die jemand in seinem Kopf flüsterte. »Da vorn wartet der Tod. Und er wartet auf uns.«
    Beim ersten Glockenschlag fuhren die Versammelten zusammen. Jeder, ohne Ausnahme. Keiner hatte diesen Ton erwartet. Es war, als habe jemand Strom in den braunen Schlamm geleitet, in dem sie standen. Sie zuckten zusammen, sahen ins Dorf hinab, dann schließlich zu ihrem Pfarrer. Der strahlte glücklich. Bardo hatte gute Arbeit geleistet!
    Nur wenige hatten in diesem Augenblick keine Gänsehaut. Das unerwartete, tiefe Dong-dong-dong aus ihrer Kirche löste die verschiedensten, widerstreitenden Gefühle aus: Sehnsucht nach der Normalität, mit der jeder Glockenschlag einst verbunden war, Erschrecken und abgrundtiefe Trauer. Alles ist vorbei, dachten viele und die Glocke vibrierte in ihnen. Es wird niemals wieder so sein, wie es einmal war. Sie trauerten nicht um die Toten, an deren Grab sie sich versammelt hatten – jeder von ihnen trauerte um sein eigenes Leben, um den Rhythmus dieses Lebens, um Sicherheiten, um das Gewohnte. Viele weinten.
    Dong-dong-dong.
    Aber konnte wirklich alles vorbei sein, wenn dieser Ton wieder zu hö ren war? Gab es nicht doch einen Ausweg, eine Zuflucht, Hoffnung? Pfarrer Jakob Kühne hob beide Hände, während, wie besprochen, nach genau drei Minuten das Geläut langsam schwächer wurde und schließlich ganz erstarb.
    Kühne spreizte die Arme, als wolle er die ganze versammelte Gemeinde umarmen. Sein Herz klopfte wie verrückt, es klopfte vor Angst zu versagen, vor Freude über den Klang ihrer Glocke, vor Zuversicht. Mehr als dreihundert Augenpaare fühlte er auf sich gerichtet, keiner sagte ein Sterbenswörtchen, in vielen Gesichtern glitzerten Tränen.
    »Lasst uns beten«, rief er.
    Alle senkten die Köpfe und falteten ihre Hände.
    »Vater unser im Himmel …«, begann Kühne.
    »… geheiligt werde dein Name«, fiel seine Gemeinde ein.
    Es wurde das inbrünstigste Vaterunser, das Kühne jemals gehört hatte. Noch viele Jahre später erzählte er von der Einmaligkeit dieses Momentes auf dem Hardt, der Kraft ihres gemeinsamen Gebetes, von der Zuversicht, die sich plötzlich breitmachte. Die Gemeinschaft fühlte sich mit jedem Wort, das sie zusammen sprachen, stärker und einiger. Flüsterten sie die ersten Worte noch, so sprachen sie die nächsten mit fester Stimme, den Schluss schrien sie beinahe hinaus – trotzig, mutig, willens zu überleben, als Gemeinschaft zu überleben!
    »… in Ewigkeit. Amen.«
    Die Glocken des Todes, proklamierte Nummer drei inbrünstig. Sie läuten uns zu Ehren, sie erklingen dumpf und feierlich und locken, lo- cken uns hinab in den Schlund der wärmenden Vergänglichkeit, denn wir vergehen an diesem grauen Morgen. Die Stunde unseres Abschie- des ist endlich gekommen! Sieh dieses Schlachtfeld, auf dem sich Ge- schöpfe der Unterwelt versammelt haben. Sie empfangen uns und winken mit bunten Schirmen, locken, weisen uns den letzten Weg, oooh jaaa. Ihr gespenstisches Murmeln ist der Gesang des Todes – Sirenen, vor denen wir uns nun nicht länger verstecken können …
    Sei still! Ich kann nichts verstehen!
    Thomas wollte nicht glauben, was er in seinem Kopf vernahm. Er wollte noch nicht sterben! Aber deutete nicht alles auf das Ende hin? Dieser Ort hier atmete Tod und

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