Rattentanz
Zerstörung, war ein Platz, an dem gestorben werden musste, an dem schon Unzählige vergangen waren. Er konnte die Aura der Absturzstelle ganz deutlich fühlen, die Schrecken und Ängste der Menschen, als das Flugzeug über das Feld schlitterte, er hörte ihre Schreie und roch ihren Schweiß. Und da waren Schmerzen, unsägliche Schmerzen. Abgerissene Gliedmaßen flogen durch die Luft, Blut spritzte und ein Kopf rollte über den Dreck. Hier war der Tod, das war seine Spielwiese, seine Heimstatt. Und Eva hatte ihn hierhergeführt, damit er endlich sterben konnte.
Aber er wollte nicht!
Oh großer Tod, Nummer drei fiel in das Gemurmel der Betenden ein, … erlöse uns von dem Übel. Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit. In Ewigkeit. Amen.
»Was gesät wird, ist verweslich, schreibt Paulus im ersten Korintherbrief, was auferweckt wird, unverweslich. Was gesät wird, ist armselig, was auferweckt wird, herrlich. Was gesät wird, ist schwach, was auferweckt wird, ist stark. Gesät wird ein irdischer Leib, auferweckt ein überirdischer Leib.«
Bewusst hatte Pfarrer Kühne auf jegliche Liturgie verzichtet und nach dem Eingangsgebet sofort mit der Predigt begonnen. Sicher, das gewohnte, seit frühesten Kindestagen geübte Ritual, welches jeden Kirchgang immer wieder gleich eröffnete und gleich beschloss, wäre et was Vertrautes gewesen, etwas, das jeder von ihnen wiedererkannt hätte, ein geschätzter Moment zwischen all dem Unbekannten. Aber dies hier war kein gewöhnlicher Gottesdienst.
»Wir haben uns hier versammelt«, begann er und der einzige Laut neben seiner Stimme war das Plätschern des Regens, »um derer zu gedenken, die vor unseren Augen am Morgen des 23. Mai ums Leben kamen. Sie haben hier ihre letzte Ruhestätte gefunden und das Beste hen dieses Grabes wird uns und unsere Kinder auf ewig an diesen Tag erinnern. Dieses Grab wird uns Mahnmal sein: für die Vergänglichkeit allen Irdischens, für unsere eigene Unvollkommenheit und Vergänglichkeit. Mit dem Tod dieser Kinder, Frauen und Männer hat sich auch unser Dasein mit einem Schlag verändert, ihr alle wisst, was ich meine. Das, was unser aller Leben begleitete und bestimmte, nämlich die Annehmlichkeiten des einundzwanzigsten Jahrhunderts, haben sich im Nichts aufgelöst. Und keiner kann sagen, wann wir wieder zum Ausgangspunkt zurückkehren, sollte dies überhaupt noch einmal möglich sein.« Kühne sprach frei, nur das Eingangszitat hatte er von seinen No tizen abgelesen. Was er sich in der vergangenen Nacht zurechtgelegt hatte, erschien ihm jetzt nicht mehr angemessen. Er hatte die Erwartungen in den Augen der Menschen gesehen. Diese Menschen woll ten nicht nur etwas von Gott und der immerwährenden Hoffnung auf ein besseres Jenseits hören, wollten nicht nur mit der eigenen Ohnmacht konfrontiert werden. Sie brauchten etwas, an dem sie sich aufrichten konnten, einen Stab für die kommenden Schritte in dieser ungewohnten Welt. »Die, deren Körper in dieser Grube liegen, sehen jetzt vielleicht auf uns herab. Vielleicht belächeln sie uns, unsere Furcht und unseren Zweifel, unsere Selbstsucht, unser fehlendes Vertrauen in Gottes Ratschluss. Denn im Gegensatz zu uns wissen sie wohl schon, was wirklich geschah, kennen den Plan hinter allem. Denn dass es einen Plan gibt, dass nichts ohne Gottes Willen und damit ohne einen Sinn geschieht, steht für mich fest. Nur, können wir allen Ernstes erwarten, Gottes Pläne auf den ersten Blick zu entschlüsseln? Wie lange versucht der Mensch schon, Gott und seine Taten zu verstehen. Und? Sind wir auch nur einen Schritt weitergekommen? Wir sehen hier eine Kleinigkeit, da einen Funken und dort ein Fragment und ma ßen uns sofort an, einen Überblick zu besitzen. Doch ist es nicht vielmehr so, dass unser unvollkommener Geist, unsere Kleinheit, ein Erkennen unmöglich macht? Wir sehen, dass Flugzeuge abstürzen und tragen die Toten zu Grabe. Wir sehen, dass Wasser und Strom in unseren Häusern versiegt sind, wir mit niemandem mehr sprechen können, der nicht unmittelbar neben uns steht und keine Nachrichten mehr empfangen aus dem Rest der Welt. Doch verstehen wir den Sinn dahinter? Nein. Ich verstehe ihn nicht. Aber dass ich nicht verstehe, bedeutet doch nicht, dass es keinen Sinn gibt! Könnte unser Verstehen etwas an dem ändern, was nun die neue Wirklichkeit ist? Ginge irgendetwas leichter? Hätten wir deswegen mehr Lebensmittel oder et wa wieder Strom?
Paulus nennt alles Irdische verweslich,
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