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Rattentanz

Titel: Rattentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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armselig und schwach. Wir sind verweslich, armselig und schwach und erst die Auferweckung macht aus allem Irdischen etwas Überirdisches, etwas Unverwesliches, Herrliches und Starkes. Was wir tun können, ist Gott zu vertrauen. Ohne unseren Glauben an seine Weisheit werden wir diese Prüfung nicht überstehen. Keiner von uns. Glaubt ihr allen Ernstes, die Opfer der Sintflut haben den Sinn hinter dem Untergang ihrer Welt erkannt? Aber es musste sein, damals musste diese Welt reingewaschen werden, um Gottes Schöpfung eine zweite Chance zu geben. Aber die se Erkenntnis kam erst viel, viel später. Ist dies hier die moderne Version der Sintflut? Wird man in zweitausend Jahren vielleicht von der zweiten Reinigung sprechen? Mir persönlich ist es egal. Mir ist nur wichtig zu wissen, dass Gott über alles Bescheid weiß und, dass er über uns wacht. Über jeden Einzelnen von uns.
    Wenn das, worauf viele aus unserer Mitte noch hoffen, nämlich ein Wunder, nicht geschieht, liegen schwere Wochen vor uns. Es werden Wochen der Entbehrung sein, Wochen der Krankheit, Wochen des Hungers, dunkle Wochen und kalte Wochen. In einigen Familien aus unserer Mitte haben diese Wochen schon begonnen«, Kühne nickte Lo renz Sutter zu. Der kämpfte gegen seine Tränen an. »Aber in den vergangenen Tagen konnte ich auch sehen, dass wir keine Gemeinschaft von Egoisten sind. Wir haben aus unserer Mitte heraus, ohne dass es einen Befehl von außen gab, angepackt, organisiert und uns ge genseitig geholfen. Wir haben gezeigt, dass wir eine funktionierende Gemeinschaft bilden und wenn wir dies bleiben – eine Gemeinschaft – dann werden wir das, was zweifelsohne noch vor uns liegt, mit Gottes Hilfe meistern. Gott ist mit uns, wer sollte dann gegen uns sein?«
    Kühne betrachtete seine Gemeinde. Alle, vom Greis bis zum Kleinkind, hingen an seinen Lippen und jedes Wort wurde wie Wasser von einem trockenen Schwamm aufgesogen. Sie lechzten nach Trost, nach einem Fingerzeig. Kühne war sich nicht sicher, ob seine Predigt trösten konnte, aber sie sagte, was er dachte und empfand. Er selbst sehnte sich nach Hilfe und es war schwer, nichts zu verstehen, die gewohnte Welt untergehen zu sehen und trotzdem zu vertrauen.
    Hermann Fuchs hatte sich unbemerkt näher geschlichen. So gebannt starrten die drei auf die Menschenansammlung da vorn, dass sie keinen Blick zurück verschwendeten. Höchstens zehn Meter lagen noch zwischen ihm und seinem Ziel.
    Die Krankenschwester erhob sich, flüsterte dem Verrückten etwas zu und verließ das Versteck. Sie ging direkt auf die Menschen da vorn zu, zuerst noch in der Deckung der Flugzeugtrümmer, später über offenes Feld. Jetzt war der Bulle allein!
    War dies die Chance, auf die Fuchs gewartet hatte?
    Sie war es!
    Fuchs kroch aus seinem Unterschlupf langsam Richtung Beck. Die Tasche hatte er zurückgelassen und zwischen den Zähnen hielt er sein Messer.
    »Vertrauen ist das A und das O. Vertrauen in Gott, Vertrauen aber auch in uns. Ich bin mir sicher, dass unsere Gemeinschaft dieses Vertrauen aufbringen kann, dass wir Stärke besitzen und Optimismus und den Glauben an Gott unseren Herrn. Wenn wir vor unseren leeren Kühlschränken im Dunkeln stehen und uns bedauern, sollten wir vielleicht nicht vergessen, dass wir auch in dieser riesigen Katastrophe wieder zu den Bevorzugten gehören. Oder kann sich jemand vorstellen, wie es jetzt in den Großstädten aussehen mag? Oder auf der Südhalbkugel, wo in diesen schweren Tagen der Winter beginnt? Gottes Gnade wird uns auch durch diese schwere Zeit führen und wie ihr seht, wenn ihr sehen wollt, hält er bereits jetzt schon schützend die Hände über uns. Von nun an sind wir gefordert, so sehr, wie wohl noch nie in unserem Leben. Unsere Kraft, unsere Mitmenschlichkeit und Gü te, unsere Liebe und unser Gemeinschaftsgeist sind gefordert und unser Glaube. Denn auch, wenn wir unfähig sind zu begreifen, sind wir doch fähig zu glauben und zu lieben, gerade in schweren Zeiten wie diesen. Wenn wir dies beherzigen, wird der plötzliche Tod dieser Menschen nicht umsonst gewesen sein. Gott steht uns bei − stehen wir uns auch bei. Amen.«
    Hildegund Teufel weinte. Wie so viele.
    Dann fiel Kühne auf, dass einige an ihm vorbeistarrten. Und es wur den immer mehr.
    Fuchs sah seine Chance gekommen. Wenn er jetzt nicht handelte und es zuließ, dass seine Beute in der Anonymität der Menschenansammlung dort vorn untertauchte, war es vielleicht für immer vorbei. Es gibt Gelegenheiten,

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