Rattentanz
rechts und links davon lagen die Trümmer eines Flugzeuges, ein Airbus, das ausgebrannte Heck, eine verkohlte Tragfläche ein großes Stück weiter vorn, und eine Unzahl kleiner und kleinster Wrackteile. Der Dauerregen der letzten Stunden hatte den Graben kniehoch mit Wasser gefüllt – ein schlammiges Braun, auf dem an manchen Stellen ein undefinierbarer Brei aus Stofffetzen, Papieren und den verschiedensten Überbleibseln von und aus dem Flugzeug schwamm. Der Re gen warf dicke Blasen in die Masse, als könne er das, was hier vor ein paar Tagen geschehen sein musste, ungeschehen machen, indem er es wegspült.
»Das muss am Mittwoch passiert sein«, flüsterte Eva, »als auch bei uns Flugzeuge abgestürzt sind. Dr. Stiller hat was davon erzählt. Aber dass es wirklich wahr ist …«
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08:52 Uhr, Hardt bei Wellendingen, Massengrab
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Assauer stand ganz vorn. In seiner viel zu weiten Kleidung, dem langen Mantel mit aufgeschlagenem Kragen und einem weiten Hut, von dem das Wasser tropfte, erinnerte er von hinten an einen Mafiaboss. Wer aber sein Gesicht sah, verwarf diesen Eindruck sofort.
Am Grab an der Absturzstelle hatten sich weit über dreihundert Menschen versammelt, eigentlich das komplette Dorf. Es fehlten nur Kiefer und Bubi, die ihre neue Aufgabe äußerst genau nahmen und durch das leere Dorf patrouillierten, Petra Sutter, die am Bett ihrer noch immer stark fiebernden Tochter blieb und versuchte, ihr etwas Fleischbrühe einzuflößen sowie eine Handvoll Alte und Kranke, die besser ihre Betten hüteten.
Von unten betrachtet waren die Menschen ein Gemisch aus Gummistiefeln, nass und bis zu den Knöcheln im Schlamm. Von oben aber bildeten sie einen bunten Flickenteppich aus Regenschirmen. Sie standen dicht an dicht um den zehn auf zehn Meter großen Erdhügel. Un ter dem Hügel lagen die Toten aus dem Flugzeug, eingepackt in große Plastikplanen, mit Kalk bestäubt und nasser Erde zugedeckt. Ein Grab.
Der kleine Altar und Pfarrer Kühne dahinter standen mit dem Rücken nach Osten, die Männer, Frauen und Kinder in Hufeisenform um das schmucklose Grab.
Lea Seger hielt Assauer an der Hand. Sie hatte ihm ihren bunten Blu menstrauß in die Rechte gelegt und er hielt das Bukett, wie er auch einen Gartenschlauch gehalten hätte oder ein Stück Holz. Faust hatte die schwache Hoffnung, dass der Anblick der Absturzstelle irgendetwas in Assauer in Gang setzen könnte, ein blockiertes Zahnrad löste, einen zugezogenen Vorhang öffnete. Aber es tat sich nichts. Assauer blickte mit entspannten Gesichtszügen ins Leere und die Mundwinkel umspielte der Anflug eines Lächelns, fast wie ein Schatten oder das Echo des Gedanken oder Gefühles, das er gehabt haben musste, als die Zeit für ihn stehen geblieben war.
Etwas abseits der Menschenmenge stand Eugen Nussberger. Er zog an einer Mädchen-Zigarette, wie er die Light-Produkte immer abfällig genannt hatte. Ist was für Mädchen und Weicheier. Er hatte auf sei nem Weg hierher Bubi und Kiefer getroffen. Sage und schreibe fünfzig Euro hatte Martin Kiefer für die angebrochene Schachtel gefordert und Nussberger hatte gezahlt. Seine Finger zitterten, als Geld und Zigaretten den Besitzer wechselten.
Hildegund Teufel saß auf einem Klappstuhl in der ersten Reihe. Sie hatte sich den Stuhl auf den Rücken gebunden und war, mit ihren beiden Stöcken bewaffnet, langsam den schnurgeraden, steilen Weg aufs Hardt hinaufmarschiert.
Bardo Schwab grinste in sich hinein. Alles wird gut gehen, schienen seine Augen den nervösen Pfarrer beruhigen zu wollen. Ich habe die Glocke repariert und Sie werden jetzt den Glauben der Menschen reparieren!
Pfarrer Kühne schielte auf seine Armbanduhr und zu Schwab hin ü ber. Seine Finger spielten mit den Notizen zu seiner Predigt, die, wie Fräulein Guhl mit Entsetzen feststellte, der Regen vollkommen aufgeweicht hatte und die jetzt unleserlich waren. Und was der Regen nicht verwischt hatte, schafften die dicken, vor Nervosität zitternden Finger des Pfarrers.
Der Lehrer, Markus Thoma, dessen Söhnen es seit gestern deutlich besser ging, überlegte beim Anblick der vielen Kinder, ob er in der kommenden Woche in der kleinen Dorfschule nicht einen provisorischen Unterricht anbieten sollte, während ein Stück weiter vorn Lorenz Sutter fast im Stehen einschlief. Er hatte dunkle Schatten unter den Augen, war übernächtigt, hungrig und voller Angst um Jessika. Als einer der Letzten traf Roland Basler ein. Er kam im Stechschritt durch die Menge,
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