Rattentanz
Gebäude aus Ängsten und Albträumen, Erinnerungen und Sorge, ein Gebäude, welches jeden Moment einstürzen konnte. Angst um Lea, Angst um das Kind in ihrem Bauch, Angst um Hans. Assauer fuhr sich mit beiden Händen durch die schulterlangen, weißen Haare. »Und es ist niemand gekommen, um zu helfen? Keine Armee, keine Polizei?«
Faust schüttelte den Kopf.
»Dann scheint es überall so zu sein.«
»Vermuten wir auch. Wäre das alles ein lokales Phänomen, müssten Hilfsmaßnahmen angelaufen sein. Immerhin sind seither schon weit über achtzig Stunden vergangen. Aber wie es aussieht, sind wir ganz auf uns allein gestellt.«
Eva berichtete aus Donaueschingen, vom Chaos im Krankenhaus, wie sie Beck kennenlernte und sie gemeinsam Thomas aus seinem Sarg befreiten. Eva erzählte von Patienten, die sie noch gebraucht hätten. Aleksandr und Olga Glück erwähnte sie nicht, denn sie wusste auch jetzt noch nicht, ob sie das Richtige getan hatte. Als Faust sie nach dem Mann fragte, der ihre Begleiter überfallen hatte, wurde Eva nachdenklich. Sie hatte Hermann Fuchs zweifelsfrei als den Mann aus dem Operationssaal identifizieren können, trotz Regen und trotz Entfernung. Aber warum war er ihnen gefolgt?
»Vermutlich war er hinter dem Geld her«, sagte Eva.
»Geld?«
Eva erzählte von den zwanzigtausend Euro.
»Meines Wissens hatte dein Freund nichts bei sich«, sagte Faust. Also war er ihnen einzig und allein wegen des Geldes gefolgt, dach te Eva angeekelt. Dann erzählte Eva von ihrer Wanderung hierher und dass sich die Dörfer, durch die sie gekommen waren, fast alle mit Straßensperren verbarrikadiert hatten.
»Sind wir also nicht als Einzige auf diese Idee gekommen«, sagte Faust.
»Ihr habt Straßensperren angelegt?«
Faust erzählte Eva und Assauer von den Plünderungen in Bonndorf, der Ermordung von Adelheid Nussberger und den Diebstählen der letzten Tage. »Wir konnten gar nicht anders.« Es klang wie eine Entschuldigung. Er wusste, was Eva in diesem Augenblick durch den Kopf gehen musste: wenn − und alles sprach dafür, dass es so war −, wenn überall Sperren die Straßen unpassierbar machten, wie sollte Hans Seger dann jemals zurückkommen?!
Faust erwähnte den Gemeinderat, dem Roland Basler vorstand. Er erzählte, dass man sich im Dorf bei der Versorgung der Kühe nebenan in Albickers Stall abwechselte. Dass Kiefer und Bubi eine Sicherheitstruppe aufbauen sollten, registrierte Eva mit einer Sorgenfalte. Sie kannte ihren ersten Mann anders als jeder andere im Ort.
»Wieso ist Martin hier und nicht in Bonndorf?«
»Wollte es so. Hat irgendwas mit Basler gemauschelt und wohnt jetzt unten in der Krone. Der alte Winterhalder ist gottfroh. Außer-dem darf niemand mehr ein Auto benutzen«, erklärte Faust weiter die neuen Regeln im Ort, »und alle Lebensmittel im Dorf sollen gerecht verteilt werden.«
»Und die Leute machen dabei mit?«, zweifelte Assauer.
»Mehr oder weniger«, antwortete Faust. Eva lächelte. »Wir müssen uns auf das verlassen, was uns gesagt wird. Überprüfen kann natürlich keiner, was jeder Einzelne vielleicht noch im Keller versteckt hat.«
»Mittelalter«, konstatierte Assauer nach einer kurzen Pause. »Mei ne letzten Erinnerungen an das abstürzende Flugzeug scheinen keinen Wimpernschlag entfernt. Ein kurzer Schlaf und ich werde im Mittelalter wach.« Seine Stimme war traurig und unsagbar müde. Dann sah er an sich herunter. »Wessen Kleider sind das?«
»Meine«, sagte Faust. »Sie passen zwar nicht perfekt, aber ich habe nichts anderes.«
»Und Sie haben mir jetzt drei Tage Essen und Trinken gegeben, obwohl Sie selbst kaum noch etwas haben?«
»Sie haben nicht viel gegessen. Lea da futtert deutlich mehr.«
Assauers Augen füllten sich mit Tränen. Worte hätten niemals die Verwunderung und Dankbarkeit zum Ausdruck bringen können, die Faust entgegenstrahlten. Die Dankbarkeit eines Mannes, der plötzlich erkennen konnte, wie groß das Opfer eigentlich war, welches er in den vergangenen Tagen ganz selbstverständlich angenommen hatte, wenn auch ohne Bewusstsein. Assauer wünschte sich den Tod, wünschte, bei Kevin und Sybilla zu sein, wünschte sich die selige Trance zurück, die ihn seit dem Absturz beschützt hatte.
»Danke.«
Plötzlich brach alles aus ihm heraus: Angst und Schmerz, Dank und Überraschung flossen in wahren Sturzbächen aus seinen Augen. Er schluchzte wie ein kleines Kind, hemmungslos, nur noch Trauer und Einsamkeit und seine mageren Schultern
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