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Rattentanz

Titel: Rattentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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Alleingang Entscheidungen zu treffen, die sie alle angingen, war ihm mehr und mehr zuwider.
    »Es ist gut, dass Eva zurück ist«, sagte Eisele. »Fast wie ein Sechser im Lotto. Wir haben Durchfälle, einen Armbruch und zwei Leute ha ben sich an ihren Lagerfeuern Verbrennungen zugezogen. Alles unbehandelt und sicher erst der Anfang.«
    Roland Basler nickte. »Aber was machen wir mit den beiden Männern? Für sie muss eine Lösung gefunden werden. Schnellstmöglich. Wir können uns keine Fremden leisten, die der Gemeinschaft auf der Tasche liegen.«
    »Widerlich!«, stöhnte Faust und wandte sich ab. »Wie auf einem Sklavenmarkt. Wir sind so kalt und so widerlich.« Aber gab es eine Al ternative? Er wusste keine und diese Erkenntnis machte ihn fast noch wütender als Baslers Realitätssinn.
    Musste es wirklich sein, den Tatsachen so brutal ins Auge zu sehen? Musste einer aus ihrer Mitte alles beim Namen nennen? Faust verachtete Basler in diesem Augenblick, wusste aber auch, dass es eines Mannes von Baslers Schlag bedurfte, damit ihre Gemeinschaft nicht an Sentimentalitäten und Mitmenschlichkeit unterginge. Was heute gedacht und vor allem auch getan werden musste, widersprach so ziemlich in allen Aspekten dem, was bis zum 23. Mai noch Usus war. Die sozialen Taue waren zerrissen. Es gab keine Versicherungssysteme mehr, die anonym und im Namen der Gesellschaft einsprangen. Die, die in dieser neuen Zeit in Schwierigkeiten gerieten, waren auf sich und die Nächstenliebe bestimmter Personen angewiesen. Und jeden, der bereit und in der Lage war zu helfen, konnte man klar definieren. Aber auch jede Person, die nicht half. Keiner konnte sich mehr auf ein System verlassen, in das er regelmäßig einbezahlte und welches dann schon in seinem Namen Hilfe verteilen würde. Man musste selbst entscheiden, wusste Faust. Und, was das Schlimmste war: man musste in der Folge mit dieser Entscheidung leben.
    Faust zog seine Jacke zu und stapfte davon. Er wollte noch zu Hildegund Teufel und sie um etwas Salz bitten. Susanne hatte ihm am Morgen erzählt, dass sie keinen Krümel mehr im Haus hatte. Für ein paar Cent hatte man bis Mittwoch in jedem Lebensmittelgeschäft Salz kaufen können: stinknormales Speisesalz, biologisches Salz − wo auch immer da der Unterschied liegen mochte −, jodiertes Salz, Meersalz. Früher. Heute wusste kaum noch jemand, wo Salz natürlicherweise vorkam, von seiner Gewinnung ganz zu schweigen.
    »Wir sehen uns heute Abend«, rief ihm Basler hinterher. »Punkt acht bei der alten Teufel.« Statt einer Antwort hob Faust im Weggehen die Hand zum Gruß. Natürlich würde er kommen.

67
    16:33 Uhr, Wellendingen
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    Eckard Assauer saß im Haus von Eva und Hans Seger. Er saß am Kü chentisch und starrte zum ersten Mal wirklich bewusst auf den ausgebrannten Flugzeugrumpf am Hardt. Der ragte in den Himmel, eine Silhouette, ein Echo nur – Echo seiner letzten Erinnerung.
    »Eckard Assauer«, hatte er kurz auf Evas Frage nach seinem Namen geantwortet.
    Auf dem Rückweg vom Massengrab, an dem er erwacht war, hatte er den zweifelnd-ängstlichen Blick eines Menschen, der plötzlich aus dem Schlaf fährt und sich in einer anderen Welt, in einer anderen Zeit wiederfindet. Um ihn herum waren fremde Menschen und er war mit ihnen an einem Ort vereint, von dessen Existenz er bis zu diesem Augenblick nicht einmal eine Ahnung gehabt hatte.
    Auf dem Weg vom Hardt kam er an Martin Kiefer und Bubi vorbei. Mit Maschinengewehren über den Schultern lehnten diese an Kie fers ramponiertem Sportwagen. Warum, hatte Assauer sich gefragt, warum sind die Männer bewaffnet? Die Gier in den Augen des einen, mit der dieser Eva Seger betrachtete, hatte er nur im Unterbewusstsein registriert, ebenso Evas Überraschung, als sie ihren Exmann sah.
    Sie hatten Joachim Beck ins Pfarrhaus gebracht. Nachdem Eva dort seine Wunden notdürftig versorgt und ihm etwas Antibiotika und zwei Schmerztabletten eingeflößt hatte, wurden auch sie und Lea von Fräulein Guhl hinauskomplimentiert. Eva war fast glücklich, das Kran kenbett verlassen zu können. Niemand sollte so etwas sehen müssen, schon gar nicht Lea.
    Der Pfarrer kümmerte sich rührend um Thomas und gab ihm trockene Kleider aus seinem schmalen Fundus. In den viel zu weiten und an Ärmeln und Beinen zu kurzen Kleidern sah Thomas wie ein Halbwüchsiger aus, der über Nacht in die Höhe geschossen war. Aber ihn selbst schien dies nicht weiter zu stören. Er wurde auf einen Küchenstuhl gedrückt,

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