Rattentanz
bekam eine Tasse Tee (kein Melissentee!) und zuckte nur leicht zusammen, als Eva das Pfarrhaus verließ und Kühne ihm ein kleines Zimmer zeigte, in dem er vorerst bleiben konnte.
»Habt ihr etwas von Hans gehört?« Faust war zu ihr ins Haus herübergekommen und wollte wissen, ob er ihr mit irgendetwas aushelfen könne. Faust schüttelte den Kopf auf Evas Frage. Natürlich hatte niemand etwas von Hans Seger gehört. Wie auch?
Eva hatte gleich nach ihrer Rückkehr den kleinen Schwedenofen im Wohnzimmer angeheizt und einen Topf Wasser aufgesetzt. Lea stand neben ihr und beobachtete jeden Handgriff der Mutter. Seit sie ihre Mutter auf dem Hardt im Regen erkannt hatte, ging sie keinen Zentimeter von ihrer Seite. Sie hatte Angst, alles könnte nur ein Traum sein und die Mutter im nächsten Augenblick wieder verschwinden. Immer wieder streckte Lea die Hand nach Eva aus und berührte sie. Mama war da.
Eva löffelte Instantkaffee in zwei Tassen.
»Du auch?«, fragte sie Faust. Der nickte.
Als sie bei Eckard Assauer am Küchentisch saßen, erzählte Faust zuerst von den Flugzeugabstürzen.
»Und warum waren alle da oben auf dem Berg?«, fragte Assauer.
»Es … Nun, es war die Trauerfeier für die Absturzopfer«, antwortete Faust. Er nippte an seinem Kaffee und folgte Assauers Blick nach draußen. »Wir haben alle Toten in einem Massengrab beerdigt, auch den Jungen, den Sie im Arm hielten, als wir Sie fanden.«
»Kevin«, sagte Assauer. »Er hieß Kevin. Mein Enkel.« Seine Unter lippe zitterte. Lea, die sich auf den Schoß ihrer Mutter gedrängelt hatte, rutschte herunter, ging zu Assauer und streichelte die Hand des alten Mannes.
»Er ist jetzt bestimmt im Himmel«, sagte sie. »Er kann uns sehen und vielleicht ist er schon ein Engel und sitzt mit hier am Tisch und will gar nicht, dass du traurig bist.«
Assauer weinte. Warum ich?
Assauer verstand nicht, dass er noch am Leben war, während alle anderen Passagiere seines Fluges in einer mit Plastikplanen ausgelegten Grube lagen, mit Kalk bestäubt und von feuchter, lehmiger Erde bedeckt. Warum lag er nicht dort, mit geschlossenen Augen und abgerissenen Gliedmaßen, warum seine Tochter und sein Enkelsohn, während er weiterleben musste? Er war ein alter Mann und hatte sein Leben gelebt, Kevin hingegen noch alles vor sich.
»Kevin«, begann Faust und zögerte. Sollte er dem alten Mann alles sagen? »Kevin hat Ihnen vermutlich das Leben gerettet. Sein Körper hat den Aufprall abgefangen und Sie beschützt.«
Warum?
»Die vergangenen drei Tage seit dem Unglück waren Sie völlig apathisch.«
Warum?
»Sie haben weder gesprochen noch irgendetwas getan.«
Warum?
»Lea hat sich die ganze Zeit um Sie gekümmert.«
Warum?
Assauer betrachtete das Wrack des Airbusses und musste plötzlich lächeln. Was von der Maschine übrig war, ragte steil in den Himmel, aufrecht und unübersehbar – ein überdimensioniertes Phallussymbol, wie Sybilla bestimmt umgehend bemerkt hätte. Also war Gott wohl doch ein Mann.
Und Sybilla war tot. Und Kevin.
»Möchten Sie noch Kaffee?«
Die Schüsse aus Becks Dienstpistole hatten seinen heilsamen Schlaf beendet und ihn am Grab der einzigen beiden Menschen erwachen lassen, die ihm nach dem frühen Tod seiner Frau noch geblieben wa ren. Und jetzt war Kevin tot, damit er leben durfte, leben musste. Wieso waren die Toten auf freiem Feld beerdigt worden? Wo waren die Rettungskräfte? Wieso er selbst nicht in einem Krankenhaus?
»Herr Assauer. Möchten Sie noch Kaffee?«
»Weiß man etwas über die Absturzursache?«, fragte er schließlich und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel.
»Nein.« Faust schüttelte den Kopf. »Keiner weiß irgendetwas. Nur, dass am Mittwochmorgen alle Flugzeuge abgestürzt sind, dass es seitdem keinen Strom und kein Wasser mehr gibt und dass sämtliche Telefone tot sind.«
»Auch Handys?«
Eva nickte und blickte auf die Tischplatte. »Ja, auch Handys. Es funktioniert buchstäblich nichts mehr.« Sie würde alles für ein Telefonat mit ihrem Mann geben, alles, nur um zu erfahren, ob Hans noch am Leben war, wo er sich in diesem Augenblick befand. Was war schlimmer − die Gewissheit über den Tod eines geliebten Menschen oder das unablässige Hoffen und Zweifeln, welches mit jeder Stunde schlimmer und schlimmer wurde? War dieser fremde Mann nicht besser dran als sie selbst? Die Fakten seines Lebens lagen klar auf dem Tisch, schmerzhaft zwar, aber eindeutig. Ihr Leben aber war nur mehr ein zitterndes
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