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Rattentanz

Titel: Rattentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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bebten. Er zitterte. Faust rutschte auf seinem Stuhl hin und her. Tränen mochte er gar nicht und erst recht nicht die Tränen eines Mannes.
    Lea legte ihre kleine Hand auf Assauers Arm.
    »Du kannst ruhig weinen«, sagte sie. »Mein Papa sagt immer, weinen macht den Kopf wieder sauber.«
    Assauer machte gründlich sauber.
    Eva ließ Eckard Assauer und Lea allein zurück. Lea konnte ihm vielleicht besser helfen, seinen Schmerz zu akzeptieren, als irgendein Erwachsener es vermochte. Für Kinder waren Tränen noch etwas Selbstverständliches, das, was sie wirklich waren: eine Gefühlsregung, ein Ausdruck. Ein Mittel, um den ersten, überwältigenden körperlichen oder seelischen Schmerz aus dem Leib zu waschen, bevor dann der zweite Schmerz kam, der, den man erkennen konnte, der durch Vernunft beherrschbar war. Später.
    Eva schluckte ihre eigenen Tränen hinunter und verließ die Küche. Sie stieg die Holztreppe ins Obergeschoss hinauf und legte sich auf ihr jetzt viel zu breites Bett.
    Sie vergrub ihr Gesicht in Hans’ Kopfkissen. Tief sog sie den Duft in sich ein. Aber es waren nur noch ein paar wenige geruchliche Bruchstücke ihres Mannes, die sie hier fand. Trotzdem gab sie sich der Vorstellung hin, dass gleich die Treppe knarren müsse und Hans im Türrahmen erschiene. Er würde sich zu ihr legen und ihre Tränen trocknen.

68
    27. Mai, 05:19 Uhr, bei Trelleborg, Südschweden
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    Hans Seger erwachte vom Geschrei der Möwen. Er blinzelte nach Osten, wo die Küstenlinie einen sanften Bogen beschrieb und der Him mel von orange über weiß ins Hellblaue überging. Dort irgendwo musste Trelleborg liegen.
    Den vergangenen Tag hatte er die Gegend nach einem Boot oder einem Floß abgesucht. Aber entweder waren alle Boote plötzlich verschwunden oder er hatte einfach an den falschen Stellen gesucht. Jedenfalls konnte er nichts Brauchbares finden. Zwei Kilometer westlich von hier war er auf ein Fischerboot gestoßen. Aber es lag mit einem kindskopfgroßen Loch im Rumpf am Strand und wäre auch ohne dieses Loch eine Nummer zu groß für einen einzelnen Mann gewesen.
    Jedem Kontakt mit anderen Menschen ging er aus dem Weg. Was er in Malmö − vor allem aber im Kampf um sein Brot − erlebt hatte, hatte ihn vorsichtig werden lassen.
    Hans Seger setzte sich auf. Er fühlte sich alt und steif. Er streckte sich und ächzte dabei. Die ihn umlagernden Möwen erschraken und stoben zur Seite. Sie schimpften und geiferten wie alte Marktweiber, de nen ein kleiner Dieb einen Apfel aus der Auslage gestohlen hatte. Die Möwen hatten das halbe Brot neben ihm entdeckt, die Wärme seines Körpers gespürt und sich auf ein leichtes Mahl gefreut. Auf ihn gefreut! Er fror wie ein geschorenes, nasses Schaf. Die Sonne hatte so früh am Morgen noch nicht genügend Kraft, ihn zu wärmen und alles, was er an Kleidern besaß, trug er am Leib. Hans stand auf, hüpfte zwei-, dreimal auf der Stelle (die Möwen hüpften zurück) und schlang die Arme um sich, als könne ihn diese Umarmung mit sich selbst aufwärmen. Die Ostsee lag reglos vor ihm, nur am Ufer zu seinen Füßen plätscherten winzige Wellen hin und her. Er zog sich aus, fror noch mehr und warf seine Sachen über das halbe Brot. Nur ganz kurz dachte er an den alten Mann und wie er selbst zu diesem Brot gekommen war, dann rannte er ins Wasser, tauchte unter und wusch sich den Schmutz der letzten Tage vom Leib, vertrieb Kälte und Zweifel.
    »Ich komme«, sagte er und schwamm mit weiten Zügen vom Ufer weg. Bei diesem Wetter könnte man selbst auf einem Brett, wenn es nur groß genug wäre, die Ostsee überqueren. Heute würde er ein Boot finden, sagte er sich. Irgendwas müsste sich doch finden lassen, mit dem man von hier wegkam, nur weg hier, zurück nach Deutschland, zu Eva und Lea. Er drehte um und blinzelte zur Seite, in die aufsteigende Sonne. Am Ufer tanzten die Möwen um das unter seinen Kleidern versunkene Brot, äugten zu Hans hinaus aufs Meer.
    Langsam spürte er seinen Körper wieder, die Bewegung im Wasser tat gut.
    Er zog sich an, aß nebenher ein paar trockene Brotstücke und spülte diese mit einem Schluck Wasser hinunter. Anschließend ging er nach Osten, der aufgehenden Sonne und Trelleborg entgegen. Er würde ein Boot finden! Irgendetwas, Hauptsache, es schwimmt. Mit gierigem Ge zeter stürzten sich die Möwen auf die Stelle, an der eben noch das Brot gelegen hatte.
    Nach einer halben Stunde, die er barfuß am Strand entlanggegangen war, erreichte er die ersten Häuser

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