Rattentanz
zurücklassen würden? Würde er überhaupt jemanden in Trelleborg finden? Die vergangenen Tage, vor allem aber seine gestrige Begegnung mit Nils Svensson, hatten mehr als deutlich gezeigt, dass es in dieser Welt keine vertrauten oder berechenbaren Reaktionen mehr gab. Wie also würden Fremde mit ihm verfahren, wenn sie sein Brot sahen, wenn sie ihn als Eindringling oder Gegner empfanden?
Hans betrachtete die Hölzer und das Boot. Rechts und links befanden sich in der Reling Vorrichtungen zum Einlegen der Ruder. Wenn er es allein wagte, fiele das Risiko, welches ein Fremder darstellt, weg. Ein Problem weniger. Es fehlten aber auch dessen helfende Hände, seine Kraft.
Was wiegt schwerer, die Gefahr, an den Falschen zu geraten oder aber diese Aufgabe allein zu meistern?
Hans hatte keine Ahnung, wie lange man bis Rügen unterwegs sein mochte. Vorausgesetzt, er bekam das Boot tatsächlich irgendwie zu Wasser, wie viele Kilometer (oder Seemeilen?) lagen dann vor ihm, wie viel konnte ein einzelner Mann am Tag schaffen? Und was war, wenn sich das Wetter änderte, Gegenwind aufkam und Wellengang? Er würde Vorräte brauchen und Wasser, viel Trinkwasser.
Auf seinem Weg hierher hatte er ein kleines Rinnsal überquert, ein winziges Bächlein nur, das ins Meer mündete. Er hatte den restlichen Wein ausgeleert, die Flasche ausgespült und mit kristallklarem Wasser gefüllt. Das war also nicht das Problem, vorausgesetzt, er fand noch ein paar Flaschen, um mit einem sicheren Vorrat starten zu können.
Hans stand auf und legte sein halbes Brot auf das Verandageländer. Dann suchte er sich einen geeigneten Knüppel und ging zum erstbesten Fenster. Die beiden Fensterläden waren von innen durch einen dünnen Metallbügel gesichert, stark genug, um dem Angriff eines Mannes zu widerstehen, aber sicher zu schwach, wenn sich dieser Mann eines Hebels bediente. Hans zwängte den Knüppel unter den Fensterladen, lehnte sich mit seinem ganzen Gewicht dagegen und williger als erwartet gab der Riegel nach, die beiden Holzläden sprangen auseinander. Ohne lang zu überlegen schlug er anschließend den Knüppel gegen das nun ungeschützte Fensterkreuz. Glas splitterte und die dünnen Holzstreben zwischen den einzelnen Scheiben brachen. Hans zog seine Schuhe an, dann kletterte er ins Innere der Hütte. Er brauchte einige Sekunden, um sich an das Zwielicht zu gewöhnen. Es war eng hier, vor ihm stand ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen, an der Wand konnte er vier Schlafkojen ausmachen, je zwei übereinander. Der einzige Raum roch nach Rauch und Salz. Über allem lag eine dünne Staubschicht, nirgends ein Hinweis, dass die Hütte in letzter Zeit Gäste gesehen hatte. Rechts stand ein kleiner Herd mit einer Gasflasche darunter, eingerahmt von schmalen Holzschränken. Wenn es hier etwas Essbares gab, dann dort.
Er öffnete einen Schrank nach dem anderen: Töpfe polterten ihm entgegen, da standen Tassen und Teller, wahllos zusammengewürfeltes Besteck und – Hans wollte seinen Augen kaum trauen – in einem der un teren Schränke, versteckt hinter einem leeren Kanister, fünf unversehrte Konservendosen neben einer halbvollen Packung Knäckebrot!
Am liebsten hätte er sich sofort auf die Konserven gestürzt – zweimal Fisch, drei mit einem kleinen Schwein auf dem Etikett –, aber er beherrschte sich, wenn es ihn auch Mühe kostete. Das da, er streichel te seine Errungenschaften, war seine Fahrkarte nach Deutschland. Fünf Konserven, dazu noch das Knäckebrot und den halben Laib, den er bereits besaß, bedeutete, dass er mindestens fünf Tage auf See sein konn te ohne sich um sein Überleben sorgen zu müssen! Und in fünf Tagen, hoffte er, müsste er es selbst mit diesem Ungetüm da hinter dem Haus geschafft haben, Rügen zu erreichen. Dies war sein Glückstag!
Er stieg durch das Fenster zurück auf die Terrasse und betrachtete einen Moment das Boot, schätzte die Aufgabe ab, die vor ihm lag. Es war noch früh am Morgen, noch nicht einmal sieben. Mit etwas Glück könnte er heute Abend bereits außer Sichtweite der Küste sein, ein ganzes Stück näher bei Eva und Lea!
Diese Vorstellung beflügelte ihn. Er nahm einen Schluck Wasser, dann begann er eine Rolle nach der anderen aus dem Stapel zu zerren und zum Boot zu schleifen. Dass er dabei beobachtet wurde, merkte er nicht.
Eine Stunde später war er bereits ein gutes Stück weiter. Wie Schwel len auf einer im Bau befindlichen Eisenbahnstrecke lagen Holz rollen vom Boot bis fast hinunter
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