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Rattentanz

Titel: Rattentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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Arzt ist.). Vergeblich. Und mit seiner Pensionierung fiel auch die letzte von ihr akzeptierte Ausrede weg. Das bist du mir schuldig. Das weißt du. Und die Diskus sion war beendet.
    »Bring mir noch Zucker.« Er stand auf, blieb aber an der Küchentür stehen.
    »Es ist nicht mehr viel da. Wenn wir etwas sparsamer wären oder wenn ich in die Stadt fahren könnte …«
    »Du wirst noch früh genug in deine Stadt kommen.«
    Sie kannten sich ein ganzes Leben lang, waren zusammen aufgewachsen und hatten im gleichen Sandkasten gespielt – sie darin, er war im Kastanienbaum über ihr gesessen und hatte sie und die anderen in dicken Stoffwindeln steckenden Hosenscheißer mit Kastanien beworfen. Was sich neckt, das liebt sich.
    Er neckte sie seine ganze Kindheit und Jugend hindurch und ohne dass einer von beiden einen anderen Partner jemals in Erwägung gezogen hätte, heirateten sie, sobald sie achtzehn war. Es war einfach so: Lena und Henning waren ein Paar, schon immer, für immer.
    Ihre Ehe blieb kinderlos. Anfangs störte es beide nicht, sie waren sich selbst genug. Er arbeitete damals noch in drei Schichten als Betriebselektriker am Bahnhof, sie stand von kurz nach sieben bis fünf in der nahen Spinnerei an einer der ratternden Webmaschinen. Besucht hatte er sie dort nie, nur manchmal, wenn er nach der langen Nachtschicht ausgeschlafen hatte, holte er sie ab und wartete vor dem Werkstor auf seine Frau, vor dem Haupttor mit dem großen Stoppschild und der immer offen stehenden Schranke. Der Lärm, der bis hierher aus der Werkhalle dröhnte, reichte ihm als Erklärung für ihre vorübergehende Schwerhörigkeit kurz nach Dienstschluss. So wie sie sich an den Krach gewöhnt hatte, gewöhnte er sich an ihre Schwerhö rigkeit und sprach einfach etwas weniger. Und das Wenige, was er in den ersten Stunden nach ihrem Feierabend sagte, sagte er etwas lauter als normal. Spätestens wenn sie zu Bett gingen hatte sich der Zustand ihrer Ohren wieder so weit normalisiert, dass sie sein Flüstern im Kopfkissen verstand. Das ging zehn Jahre gut. Ihnen fehlte nichts. Bis diese Brigitte auftauchte. Und ihre riesigen Brüste. Heute über-legte Henning Malow noch oft, was ihn an dieser Frau, die eines schönen Tages vor ihm stand und als neue Mitarbeiterin vorgestellt wurde, die er einweisen sollte, so faszinierte. Ihr nettes Lächeln vielleicht oder ihre Unbekümmertheit, mit der sie ihn so offen und frech ansah? Ihr Gang? Die Art, wie sie sprach? Ihre Jugend? Er fand viele Entschuldigungen, meist die, die er auch Lena gegenüber verwandte. Aber in den wenigen ehrlichen Momenten, in denen er wagte, sich selbst in die Augen zu sehen, wusste er: es waren einzig und allein ihre großen, festen Brüste gewesen, die ihn vier lange Jahre immer wieder zu ihr getrieben hatten. Es tat ihm leid, Brigitte nur auf diesen Reiz zu redu zieren – aber manchmal, und bei der Kombination Männer und Brüste sowieso, können die Gründe ganz offen auf der Hand liegen und Erklärungen auch. Nur ein Wort. Lena, die wegen ihrer damals noch kna benhaften Figur Komplexe hatte, verriet er den wahren Grund nie. Wie Lena von der Sache Wind bekommen konnte, war ihm heute noch ein Rätsel. Brigitte und er hatten sich nie in der Öffentlichkeit gezeigt, immer nur in ihrer Wohnung getroffen und dies auch nur, wenn er Lena in der Fabrik wusste. Und während sie den chaotisch hin-und herspringenden Fäden im Lärm der Webmaschine zusah, hat te ihr Mann sein Gesicht zwischen zwei Gründen vergraben. Abgründen.
    Egal – irgendwann war Lena nach Hause gekommen und hatte ihn mit ihrem Wissen konfrontiert. Und sie wusste viel: seit wann das lief wusste sie, wer die Glückliche war und dass er mindestens zweimal je de Woche bei ihr war.
    »Ich werde dich nicht verlassen, Henning«, hatte sie nur gesagt. »Wir gehören zusammen, merk dir das. Für immer!«
    Er sah Brigitte nie wieder. Insgeheim vermutete er, dass Lena hinter seinem Rücken mit ihr gesprochen hatte, jedenfalls kam Brigitte am folgenden Tag nicht zur Arbeit und als er nach zwei Wochen endlich den Mut aufbrachte und an ihre Tür klopfte, öffnete nebenan eine nette, ältere Dame und erklärte ihm, dass die junge Frau vor zehn Tagen ausgezogen wäre. Wohin, wusste sie nicht, aber wohl eine andere Stadt. Der Möbelwagen hatte eine fremde Nummer gehabt.
    Es folgten ruhige Jahre, unbemerkt dahintrottende Jahre, die einfach so vergingen, ohne dass man im Nachhinein noch hätte sagen können, was in welchem Jahr

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