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Rattentanz

Titel: Rattentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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Welt. Es war angenehm dunkel und feucht, Abfälle trieben auf den warmen, stinkenden Wassern und warteten nur darauf, dass sich eine der unzähligen Ratten auf sie stürzte. Störungen durch Kanalarbeiter waren selten und kurz.
    Hier waren sie die unbestrittenen Herrscher: Ratten.
    Seit vier Tagen aber war die Kloake unter der Metropole versiegt. Es hatte seit Wochen nicht geregnet und nun fehlten auch noch die Ab wässer der Millionenstadt. An wenigen Stellen innerhalb des röhrenartigen Tunnelsystems standen vereinzelt letzte Pfützen – brackige Wasserlachen, in denen Abfälle vor sich hinfaulten. Plastikmüll lag auf dem Trockenen.
    Eine seltsame Unruhe hatte von den Tieren Besitz ergriffen und breitete sich immer weiter aus. Deutlich spürten sie die Veränderungen hoch über ihren Köpfen, Veränderungen, die auch sie betrafen. Der stete, im Tagesverlauf mehrmals an-und abschwellende Verkehrslärm war völlig zum Erliegen gekommen, wie auch die Flüsse aus Wasser und Abfall, mit denen der Mensch sie bisher so großzügig versorgt hatte. Versiegt.
    Nervosität hatte die Tiere ergriffen, sie waren hungrig und hungrig waren auch ihre Jungen, die in Nestern aus Plastiktüten und Stofffetzen auf Nahrung warteten. Und über allem, ein Hohn, lag der verführerische Duft aus Verwesung, der von Stunde zu Stunde intensiver wurde, ein Geruch, der sie lockte, in den Nasen kitzelte und ein schier unermessliches Mahl versprach. Es war ein süßer Duft, der von den überhitzten Straßen herab in die Kanalisation sickerte, sich durch die Gitter der Kanaldeckel zwängte, um die von ihren Futterquellen abgeschnittenen Tiere zu quälen.
    An diesem 27. Mai wagten sich die Tiere aus dem vertrauten Labyrinth ihrer Unterwelt. Sie stürzten sich auf überquellende Müllcontainer, Säcke voller Abfälle, die auf den Gehwegen lagen und auf eine Müllabfuhr warteten, die es nicht mehr gab. Die Tiere sicherten einen Augenblick, dann begann die Invasion, der sich niemand entgegenstellte. Hier gab es keine Fallen und kein Gift, das die Blutgerinnung der Ratten zerstörte und sie innerlich verbluten ließ.
    Dies war das Paradies!
    In der Via San Nicola dei Caserti fanden sie den Leichnam eines Carabinieri. Sie zögerten nicht – Abfall war Abfall.

74
    17:26 Uhr, Trelleborg, Südschweden
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    Das kleine Haus, in dem Lena und Henning Malow die vergangenen Jahre verbracht hatten, lag abgeschieden im Wald. Die schmale Zufahrtsstraße schlängelte sich sieben Kilometer an Seen vorbei, bis sie achtzehn Kilometer vor Trelleborg den Asphalt der Landstraße erreichte. Rechts säumten Holzmasten den Weg, die das kleine Anwesen und zwei, drei andere, versteckte Gebäude mit Strom und einer Telefonleitung versorgten.
    Henning Malow raste über den Waldweg, hinter sich eine dicke Staubwolke. Der aufgewirbelte Staub machte jeden Blick in den Rückspiegel sinnlos. Aber für Henning Malow gab es keinen Blick zurück. Er hätte den Rückspiegel auch abreißen und aus dem Fenster werfen können – den Rückspiegel seines Lebens. Das Leben hatte soeben erst begonnen! Er wollte nach Trelleborg, dort die nächste Fähre nach Deutsch land nehmen und endlich nach Rom, der Stadt seiner ewigen Träume.
    Rechts und links jagte der Wald vorbei.
    Malows Augen leuchteten. Mit einer Hand steuerte er den Wagen, die andere hielt er aus dem offenen Fenster. Er hatte viel zu lange gewartet! Aber es war noch nicht zu spät. Das Leben hatte auf ihn gewartet und jetzt war er endlich bereit, sich auf dieses Leben einzulassen. Er lächelte und schaltete das Autoradio ein. In ihrem Haus hatte es kein Radio gegeben, nur den großen Fernseher, weil Lena dies so wollte. Aber jetzt – er suchte nach einem Sender –, jetzt konnte er endlich tun und lassen, was er wollte. Und er wollte Radio hören, Mu sik und Nachrichten. Vor allem Nachrichten, Nachrichten aus Deutsch land und der Welt. Seit dem Stromausfall hatten sie wie auf einer Insel gelebt, einer Insel mit einer hermetisch abschließenden Käseglocke da rüber. Kein Fernsehen, keine Zeitung, einfach nichts. Als ob es diese wundervolle Welt hier draußen einfach nicht mehr gegeben hätte. Er drückte nacheinander die sechs Knöpfe mit den gespeicherten Frequenzen, aus den Lautsprechern kam aber nur Rauschen. Manchmal knisterte und knackte es – aber das war’s dann auch schon.
    Er fuhr rechts ran und stellte den Motor ab. Hinter ihm senkte sich die Staubwolke und gestattete einen Blick zurück. Malow stützte sich auf den

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