Rattentanz
mich nicht los! Hört jetzt sofort auf!« Henning Malow rannte zu einer der Rollen, griff hinein und zerrte die Kabel auseinander.
Nun jedoch war es mit der guten Laune und Freundlichkeit der Männer vorbei. Sie, die hier seit zwei Tagen Stromleitungen abmontierten und zum nahen Windpark brachten, wo andere versuchten, we nigstens ein erstes Dorf vom allgemeinen Stromnetz abzukoppeln und mittels Windkraftanlagen wieder mit Elektrizität zu versorgen, sie fühlten sich nun doch gehörig auf die Füße getreten. Wenn der Kerl irgendwas zu meckern hatte, bitte schön, aber ihre Arbeit wollten sie machen. Sie hatten Hunger und wussten nicht, ob die anderen heute genug Essbares würden auftreiben können, um alle Mäuler im Dorf zu stopfen und jeder einzelne Knochen schmerzte von der un gewohnten Arbeit. Erst der Stromausfall, dann die Plünderungen und die Horden, die aus Trelleborg und Malmö wie Heuschrecken über das Dorf gekommen waren. Sie hatten Barrikaden um den Ort errichten müssen, um wenigstens eine Spur Sicherheit zurückzugewinnen. Und jetzt, nach tagelangem Chaos, jetzt, wo sich das Leben langsam neu sortierte und sie endlich wieder einer sinnvollen Tätigkeit nachgehen konnten, jetzt kam dieser Tourist aus dem Wald und wurde handgreiflich! Irgendwann war Schluss!
Sie rannten zu Henning Malow, packten ihn rechts und links am Arm und versuchten ihm das Kabel zu entwinden. Aber er ließ nicht los. Der dritte Arbeiter rutschte den Holzmast herab und eilte seinen Freunden zu Hilfe, die innen an seinen Schuhen angebrachten Klettereisen verhedderten sich aber und er stürzte in den Straßenstaub. Henning Malow nutzte den kurzen Moment der Unaufmerksamkeit und entwand sich dem Griff. Er klammerte sich noch immer an das di cke Kabel und rannte damit aufs Feld hinaus. Und das war nun wiederum für die Arbeiter zu viel. Die störrischen Kabel zu einer Rolle zu wickeln war fast schwieriger als deren anschließender Transport auf den Fahrrädern. Henning Malow war dabei, ihre Arbeit der letzten beiden Stunden abzuwickeln und rannte immer weiter. Rasch waren sie bei ihm. Er aber trat nach ihnen und traf einen der Männer mit der flachen Hand mitten ins Gesicht. Postwendend schlug der zurück. Seine Faust fuhr in Malows Magengrube und der Streit war beendet. Malow erstarrte in seiner Bewegung und er vergaß zu atmen. Dann klappte er zusammen und wand sich am Boden. Das Kabel war plötzlich unwichtig.
Einer der Männer machte Anstalten, dem am Boden Liegenden in die Seite zu treten. Mitten in der begonnenen Bewegung brach er ab und bückte sich nach Malow. Gemeinsam zerrten ihn die Männer auf die Beine und zu dessen kleinen Geländewagen. Die Fahrertür stand noch offen und der Zündschlüssel steckte. Sie warfen ihn auf den Sitz, schlugen die Tür zu und gaben ihm unmissverständlich zu verstehen, dass er verschwinden solle. Sofort.
Unter Schmerzen kam Henning Malow dem Befehl nach. Er starte te den Motor, legte einen Gang ein und fuhr sehr langsam davon – eine schmerzhafte Zickzacklinie.
Außer Sichtweite fuhr er an den Wegrand. Den Motor ließ er laufen. Er atmete dreimal tief durch. Solch einen Schlag hatte er seit ei nem Streit mit seinem Bruder um eine Kinokarte nicht mehr bekommen, und das war inzwischen fast fünfzig Jahre her. Er behielt im Rückspiegel den Weg im Auge. Aber niemand folgte ihm. Weshalb auch. Jetzt konnten sie in Ruhe weiterarbeiten, hätten sie sonst noch etwas von ihm gewollt, hätten sie es eben problemlos haben können. Seine Armbanduhr zeigte kurz nach halb sechs. Er musste sich beeilen, wollte er es noch zu einer der Nachtfähren schaffen – immer hinwaren es noch knappe zwanzig Kilometer bis Trelleborg und er brauchte noch ein Ticket für sich und den Wagen, wollte noch etwas zu essen einkaufen und die Zollformalitäten warteten ebenfalls, trotz eines einigen Europa.
Viel Zeit, um über die Männer und den Zweck ihrer Arbeit nachzudenken, blieb ihm nicht. Er fuhr auf die leergefegte Landstraße und bog nach Süden ab. Er saß weit und breit im einzigen fahrenden Pkw. Mehrere Autos standen am Straßenrand, zum Teil mit eingeschlagenen Scheiben. Die wenigen Menschen, auf die er traf, waren ausnahms los zu Fuß oder mit Fahrrädern unterwegs. Alle wirkten verschlossen und keiner erwiderte seinen anfangs noch freundlichen Gruß.
Dann stand er plötzlich vor einer Straßensperre aus zwei querstehenden Bussen. Aus jedem Bus starrten ihn Männer an, Gewehre im Anschlag. Henning Malow
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