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Rattentanz

Titel: Rattentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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wurde, spazierte halb neun durch den Haupteingang. Das Chaos dieses denkwürdigen Morgens hatte, wie es aussah, die Welt zurück ins Mittelalter gezaubert. Und eben dieses Chaos hatte an einer nicht funktionierenden Ampel im Donaueschinger Stadtzentrum einen Kleinbus in Valentin Josts Beifahrerseite befördert. Sein Wagen war danach Schrott und er selbst blutete heftig aus einer Platzwunde am Kopf, mit dem er gegen das Lenkrad geschlagen war. Der Fahrer des Kleinbusses hatte ohne auszusteigen zurückgesetzt und dabei einen Laternenpfahl gerammt. Dieser stürzte auf die Fahrbahn. Der Kleinbus umkurvte Josts Wagen, seine Reifen quietschten über den Gehweg, dann war er auch schon weg. Weder Polizei noch Rettungsdienste befanden sich in der Nähe oder waren zu erreichen. Vergebens hatte Valentin Jost versucht, ein Auto anzuhalten. Um die Unfallstelle und die umgestürzte Laterne herum staute sich der Berufsverkehr schnell in beide Richtungen und sickerte nur zäh durch die Engstelle. Die meisten Fahrer wichen im Vorbeifahren entweder seinem Blick aus oder zuckten nur bedauernd mit den Achseln. Zu Fuß erreichte er das Krankenhaus, die Stirn notdürftig mit seiner Jacke verbunden.
    Valentin Jost, Ehemann und Vater zweier Söhne, wohnte in Wolterdingen, nur vier Kilometer von Donaueschingen entfernt. Wie jeden Morgen war er zu seiner Arbeitsstelle unterwegs. Er arbeitete, neben zwei Dutzend Kollegen aus aller Herren Länder, als Programmierer in einer aufstrebenden EDV-Schmiede. Ende des Jahres sollte der Börsengang erfolgen und den Erlös aus dem Aktienpaket, welches jeder Mitarbeiter zum Vorzugspreis zeichnen konnte, hatte Jost bereits fest eingeplant: Er wollte mit seinen Jungs nach Florida, nach Cap Canaveral!
    Am Haupteingang nahm ihn eine der vorbeieilenden Schwestern in Empfang. »Kommen Sie«, sagte sie nach einem Blick unter seinen Turban, »das muss genäht werden. Ich bringe Sie zu einem Arzt.«
    Aber Valentin Jost gab es als Patienten eigentlich gar nicht, exis tierte nicht, weil bekanntlich alle Computersysteme streikten. Somit konnte die Versichertenkarte nicht eingelesen und kein patientenbezogenes Projekt angelegt werden. Weder sein Kopf noch die rechte Schulter, an der sich einige Prellmarken begannen abzuzeichnen, konnten geröntgt werden und auch die ärztlichen und pflegerischen Leistungen und Tätigkeiten ließen sich nicht, wie vorgeschrieben, dokumentieren.
    »Holen wir später nach«, versuchte der Chirurg, der Valentin Jost versorgt hatte und nun zur Überwachung auf die Intensivstation brachte, Dr. Stiller zu beruhigen. Aber als Stiller den Schmierzettel sah, auf dem die voraussichtlichen Diagnosen und Patientendaten gekritzelt waren, war er nicht mehr zu halten.
    »Können Sie mir verraten, wie wir hier ordentlich arbeiten sollen, wenn nichts funktioniert?«, herrschte er seinen verdutzten Kollegen an. »Das hier ist eine Intensivstation, nicht irgendeine Wald-und Wiesenabteilung! Ohne gescheite Diagnostik kann ich ihn nicht therapieren«, stellte er in süffisantem Ton und mit verschränkten Armen fest.
    »Sie sollen auch nicht therapieren, sondern überwachen!«, klärte der Chirurg ihn auf. »Die Platzwunde ist genäht. Aber, und das sollten Sie eigentlich wissen, solange eine Hirnblutung nicht ausgeschlos sen werden kann, darf ich einen Patienten nicht gehen lassen!« Damit legte er den Schmierzettel, dessen Annahme Stiller bisher verweiger te, dem in einem Rollstuhl sitzenden Valentin Jost auf den Schoß und rannte von der Station.
    Eva und Stefan, ein Pfleger, brachten Jost in ein Zimmer, während Assistenzarzt Dr. Achim »Gollum« Stiller mit vor Zorn hochrotem Kopf das eben Vorgefallene detailliert notierte. Auf einem ebensolchen Schmierzettel, wie ihm bewusst wurde, was seinen Zorn und das Gefühl der Ohnmacht, welches er so abgrundtief verachtete, nur noch verstärkte.
    Stiller war seinem Naturell nach stets zerrissen. Einerseits verlangte das ihm von Kindesbeinen an eingeimpfte Pflichtgefühl nach allseits vorhersagbaren und korrekt erledigten Vorgängen. Auf der anderen Seite war er der Typ Mensch, den man gemeinhin einen Wadenbeißer nennt: ein kleiner giftiger Mann, dessen Unzufrieden-heit mit seiner Position und dem eigenen Erscheinungsbild ihn zu einem stets angriffsbereiten Zeitgenossen machten. Stets stand er im Schatten seines zwei Jahre älteren Bruders, der, bereits Chefarzt in Würzburg, immer das Musterkind war − während Stiller mit der offensichtlichen Vorliebe seines

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