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Rattentanz

Titel: Rattentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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bekundete, war das Schlimmste, dass sie nun ihren Vater allein zurücklassen musste.
    Eva hatte seit Jahren nicht mehr bewusst an ihren ersten Mann gedacht. Seit es Hans gab, war alles Vergangene wirklich vergangen. Als Martin damals, als er noch ihr Mann war, eine unverfängliche SMS von Hans auf ihrem Handy fand, zeigte er kurz sein wahres Gesicht. Er vergewaltigte sie auf dem kalten Küchenboden und das Einzige, was sie sich dabei fragte, war, warum es in diesem Raum keinen Teppichboden gab. Weil es unpraktisch wäre, fiel ihr danach ein, als sie allein in der Küche saß und sich die Ohren zuhielt, während Martin zwei Stühle an der Wand über ihrem Kopf zertrümmerte. In den Minuten der Vergewaltigung aber wäre ein Teppichboden praktisch gewesen.
    Die SMS war ein Nichts, aber allein die Tatsache, dass ein fremder Mann seiner Frau schrieb, war für Martin Kiefer damals die Hölle. Heute lächelte er meist wie ein Mann von Welt, lächelte ein wenig zu selbstsicher. Die Vergewaltigung schien es für ihn niemals gegeben zu haben. Im Gegenteil, denn plötzlich bemühte er sich um seine Frau, warb um sie, sagte, dass er allein nicht leben könne und dass er Kinder mit ihr wolle. Aber Hans war da schon zu übermächtig und, obwohl es zu diesem Zeitpunkt – Eva und Hans kannten sich vier Monate – erst zu wenigen schüchternen Berührungen gekommen war, wusste Eva, dass Hans der Mann ihres Lebens war.
    Plötzlich spürte sie Übelkeit aufsteigen. Sie riss sich den Gummihandschuh herunter, presste die Hand vor den Mund und stürzte nun schon zum zweiten Mal an diesem Morgen aus dem Zimmer.
    Als sie zurückkam, war sie weiß wie Schnee und der Geschmack von Erbrochenem lag auf ihrer Zunge. Sie steckte sich einen Kaugummi in den Mund.
    »Ist alles in Ordnung, Schwester?« Eva versuchte ein Lächeln.
    »Natürlich«, sagte sie. »Es ist alles in Ordnung.« Sie betrachtete den alten Mann. Hilflos lag der auf seinem Bett, so wie ihn Eva vor wenigen Minuten zurückgelassen hatte. Obwohl er das Schlimmste jetzt hoffentlich hinter sich hatte, war er dem Tod doch näher als dem Leben. Und trotzdem, vielleicht aber auch deswegen, spürte er, dass mit seiner Schwester heute etwas nicht stimmte.
    Eva nahm ein Handtuch vom Nachtschrank und trocknete Aleksandr Glück den Rücken ab.
    »Schwester?« Sie musste wieder lächeln, obwohl es in ihren Innereien noch gefährlich rumorte. Aber Aleksandr Glück sagte nicht Schwester, sondern Schwästerrr, mit einem schier endlosen Rollen am Ende. Sie liebte dieses R und wie er es, mit seiner tiefen, warmen Stimme und dem typischen Akzent der Russlanddeutschen aussprach.
    »Ja?«
    »Warum hat vorhin alles gepiepst, wie tausend Vögelein?«
    »Der Strom ist weg.«
    »Oh, ist er das? Das kenne ich aus Russland. Wir hatten oft tagelang keinen Strom und immer einen Berg Kerzen im Schrank. Aber bei uns brannten keine Lampen, wenn der Strom weg war.« Er zeigte mit dem Kinn auf eine flackernde Neonröhre über seinem Bett.
    »Jetzt läuft das Notstromaggregat, glaube ich.« Sie leerte die Waschschüssel.
    »Schade Schwästerrr, dass Sie nicht immer hier sein können. Sie kommen so selten.«
    »Ach, jetzt übertreiben Sie aber!«, antwortete Eva mit gespielter Entrüstung. »Die anderen sind doch auch alle nett.« Eva wusste aber, was er meinte. Sie – das hatte er ihr vor wenigen Tagen selbst gesagt – sie erinnere ihn an seine Frau. Ihre Art, die Wärme und Ruhe – alles wie bei seiner Frau. Und Eva würde seiner damals zwanzigjährigen Frau zum Verwechseln ähneln, heute, nach über fünfzig Jahren Ehe. Sie wollte sich die Hände waschen, der Wasserhahn fauchte, dann war er still. Eva bewegte den Hebel der Mischbatterie hin und her, doch immer mit demselben Ergebnis – es gab kein Wasser mehr.
    »Ich bringe Ihnen Ihr Frühstück.«
    Auf dem Flur standen der Chefarzt, Professor Kellermann, und Stiller, ein junger Assistenzarzt, der heute auf der Intensivstation Dienst tat. Stiller wurde von allen nur Gollum genannt und wer Tolkiens »Herr der Ringe« gelesen oder gesehen hatte und Stiller kannte, wusste warum. Stiller war klein, mager, mit viel zu lang geratenen Armen, die meist hilflos an ihm herabhingen. Er hatte leicht vorquellende Augen und dünne Lippen verbargen nur halbherzig die nikotingelben Zähne.
    »Ich werde alles notieren.« Dr. Stiller war in seinem Element. Mit wachen Augen schlich er durchs Leben, beäugte alles und jeden voller Misstrauen und war eigentlich erst mit einer

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