Rattentanz
gleichzeitig. Malows Begeisterung über die eigene Idee leuchtete in seinen Augen. Er war zwar weder Seefahrer noch Meereskundler, aber soviel wusste er: die Strömung in der Ostsee, die wie ein Sack in das Land reichte, konnte nicht allzu groß sein. Es gab nur einen einzigen, ge-krümmten Zugang zum Atlantik, aber keine Abflussmöglichkeit, was den gesamten Wasseraustausch durch Öresund und Skagerrak zwang. Keine dauerhafte, konstante Strömung durch die Ostsee hindurch wie im Ärmelkanal, sondern nur ein müdes Hin und Her – ideal für eine kleine Floßfahrt.
Nach einem ärmlichen Frühstück machten sich die Männer daran, die Hölzer – so wie von Malow in den Sand gelegt – zusammenzuknoten. Tina saß mit dem Kind etwas abseits und ließ Sand durch ihre Finger rinnen. Nach und nach entstand ein kleiner Wald aus Sandtannenbäumen, die das Kind mit strahlenden Augen wieder flachdrückte.
»Sie haben die beiden wirklich erst gestern kennengelernt?«, fragte Hans Seger.
Malow nickte. »Erst das Mädchen, dann das Kind.«
»Eine richtige kleine Familie.« Hans trat gegen eine Rolle und zog mit aller Kraft einen Knoten fest. Seine blutunterlaufenen Handgelenke schmerzten noch, aber die Rettung vor Augen machte vieles erträglich.
Malow arbeitete an seinem Teil des Floßes. Die beiden Männer ka men gut voran, wie ein seit Jahren eingespieltes Team. Malows Augen blieben an Tina und dem Kind hängen.
»Ich finde, wir sollten den Jungen hierlassen«, sagte er endlich, ganz leise. Nur Hans sollte ihn hören. Hans sah auf, arbeitete aber weiter.
»Es ist weder mein Kind noch das der Kleinen da. Es wird uns aufhalten und wir müssen es versorgen, ein wildfremdes Kind, das uns seine Mutter einfach auf die Motorhaube gesetzt hat.«
Hans machte weiter, als habe er nichts gehört. Natürlich hatte Ma low recht: das Kind war eine Bremse, ein Hemmschuh. Die Erwachsenen kamen mit Sicherheit leichter voran, wenn sie allein unterwegs waren. Sie konnten den Jungen nicht mitnehmen, durften nicht – um des eigenen Überlebens willen. Aber was dann tun mit dem Kind?
Hans dachte an Lea und hoffte, dass es Menschen in Wellendingen gab, die sich um sie und Eva kümmerten, die auch in Notzeiten noch ihre Freunde waren. Er schielte zu dem blonden Jungen, der in Tinas Armen vor Freude quiekte. Wie gern hätte er heute noch einen Sohn.
»Es ist Ihre Sache«, sagte Hans endlich. »Sie sind mit den beiden unterwegs.«
»Ich bringe das Kind zurück in die Stadt.« Malow klang traurig. Jeden Tag einen Menschen im Stich lassen – war dies die Faustformel, um in dieser neuen Welt zurechtzukommen?
»Sagten Sie letzte Nacht nicht, dass Sie um keinen Preis der Welt zurück in die Stadt wollen?«
»Aber ich kann ihn doch nicht allein hier am Strand zurücklassen!«
In diesem Moment kam Tina zu ihnen und die Männer unterbrachen ihr Gespräch. Sie arbeiteten weiter und Tina betrachtete das Floß.
»Wird ziemlich eng«, sagte sie.
»Wird schon gehen«, erwiderte Malow. Ihren Blick mied er. Kurz darauf hatten sie es geschafft. Hans fand in den Hütten Besen und kleine Bretter und auch einige rostige Nägel, was zusammen drei ganz brauchbare Ruder ergab. Rechts und links brachten sie längs jeweils ein weiteres Holz an, mit einer kleinen Vertiefung für die Ruder. Malow band sie dort fest – frei beweglich, aber gegen ein Insmeergleiten geschützt.
»Fertig!« Henning Malow betrachtete ihr Werk. Er war zufrieden. Es würde sicher nass werden und bestimmt hätte jeder von ihnen ei nen dicken Schnupfen am Hals, wenn sie in zwei Tagen Rügen erreichten. Zwei Tage, so lautete die optimistische Version seiner Planung. Sollte das Wetter schlechter werden oder doch eine stärkere Strömung auftauchen – wer wusste, wie lange ihre Reise dann dauern würde.
Gemeinsam verstauten sie ihre wenigen Vorräte in der Mitte des kleinen Gefährtes. Sie hatten in den Hütten zwei weitere Kanister gefunden, die sie nun ausspülten und mit Frischwasser füllten. Zusammen mit Hans’ Kanister für die Überfahrt hoffentlich ausreichend. Ma lows Nahrungsvorräte, über deren Umfang er sich ausschwieg, ergänzten sie mit ein paar Konserven, die sie noch in der zweiten Hütte gefunden hatten. Alles in allem genug, um zu dritt und mit viel Selbstbeherrschung eine Woche überleben zu können. Zu dritt.
Sie schoben ihr Floß ins Meer. Wasser spritzte zwischen den Hölzern hoch, pegelte sich irgendwo dazwischen ein und das Floß hob und senkte sich. Hans
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