Rattentanz
Mittwochmorgen Punkt sieben Uhr sperrangelweit offen und Kiefers Entschlossenheit, die zukünftigen Regeln und Normen maßgeblich mitzubestimmen und aktiv eine neue Welt zu formen, kannte keine Grenzen. Seine Welt.
Und Evas Welt.
Er sah auf die Uhr. Mitternacht war vorbei. Er musste mit Bubi noch alles Weitere besprechen.
»Und«, fragte Bubi, als Martin Kiefer aus der Dunkelheit auftauchte und beide den Weg zu Sattlers Haus einschlugen, »wie war es? Hast du gefunden, wonach du gesucht hast?«
»Ich denke schon«, sagte Kiefer. Er klang geheimnisvoll.
»Und was war es?«
»Später. Ich muss dich etwas fragen.«
»Schieß los. Was willst du?«
»Ich war heute Vormittag in Bonndorf«, begann Kiefer.
»Hast nach deinem Haus gesehen, was?«
»Unter anderem. Ganz nebenbei habe ich erfahren, dass Christian Stadler mit einer Handvoll Männern kurz davor ist, die Windkraftanlage so weit umzubauen, dass es in einigen Teilen der Stadt kommende Woche wieder Strom geben könnte.«
»Was?!« Sogar im Dunkeln konnte man Bubis Augen strahlen se hen. Das war endlich mal eine Nachricht!
»Pst! Du wirst noch das ganze Dorf wecken!«
»Hast du das meinem Vater erzählt?« Bubi flüsterte und seine Stimme zitterte vor Aufregung. »Und den anderen im Rat? Was haben sie gesagt? Wann werden wir unser Windrad umbauen und kann Stad ler uns dabei helfen?«
»Langsam Bubi, du bringst hier einiges durcheinander. Niemand in Bonndorf hat ein Interesse daran, uns hier zu Strom zu verhelfen. Im Gegenteil, denn mit dem Vorteil funktionierender Backöfen und Kühlschränke sind sie uns deutlich überlegen. Sie werden Dinge herstellen, die wir nicht haben, die wir aber brauchen. Sie werden ihre Maschinen wieder benutzen können, werden ihre Häuser heizen und beleuch ten. Wir aber sind Konkurrenten für sie. Wir stecken mitten in ei nem Überlebenskampf. Wer weiß, wie das ganze Theater ausgeht? Aber bestimmt wird der Stärkere gewinnen, der, der in der Lage ist, die vorhandenen Mittel und Techniken zu nutzen, der über ausreichend Nahrung verfügt. Wellendingen aber wird dies nicht sein.«
Bubi wurde still. In seinem Kopf begann es zu arbeiten. Er hatte bis her gedacht, Kiefer wollte hier etwas aufbauen, hier früher oder spä ter das Ruder übernehmen. Was er jetzt aber sagte, wollte so gar nicht zu dem Tagtraum passen, er selbst und Kiefer übernähmen in Wellendingen die Macht und herrschten uneingeschränkt über das kleine Dorf.
»Wir haben seit Mittwoch einiges geschafft, wir zwei, wir sind ein tolles Team. Wenn ich nur an die Kohle gestern denke oder an die ganzen Lebensmittel aus Winterhalders Kneipe! Stadler hat mich gefragt, ob ich nicht wieder nach Bonndorf kommen will. Auch dort bauen sie gerade eine Verteidigung auf, die aber längst nicht so effektiv arbeitet wie wir. Außerdem haben sie bis auf drei oder vier Gewehre, die sie einem alten Jäger abgenommen haben, keinerlei Waffen. Mit dem, was wir in Sattlers Haus deponiert haben, wären wir gemachte Leute da drüben. Und du könntest vielleicht bald wieder deinen Computer anwerfen und endlich deine Bilder ansehen.«
»Du meinst, ich soll mitkommen?«
»Natürlich! Du bist mein Freund und der Einzige in diesem gottverdammten Nest, mit dem man etwas anfangen kann.«
»Wann?«
»Ich weiß noch nicht. Aber es könnte schnell gehen.«
Bubi zögerte. »Und das hier? Meine Eltern, das Dorf?«
»Mensch, Bubi! Das alles hattest du die vergangenen zweiundzwanzig Jahre. Und? Hat es was gebracht?« Kiefer leuchtete Bubi ins Gesicht.
Bubi schüttelte den Kopf.
»Wer bist du heute? Was bist du? Konnten dir deine Eltern anbieten, was ich dir gerade anbiete?«
Wieder schüttelte Bubi den Kopf.
»Wenn du jetzt zu mir stehst, bist du bald einer, der von allen beneidet wird, dem die Weiber in Trauben an den Beinen hängen, mit ei nem eigenen Haus und Macht! Aber du musst das selbst entscheiden, ich kann dich zu deinem Glück nicht zwingen, mein Freund. Entscheide dich ruhig, feige zu sein und weiter am Rockzipfel deines Herrn Vaters zu hängen. Hier wirst du es nie zu etwas bringen!«
»Gehst du auch, wenn ich nicht mitkomme?«
»Ja.« Kiefers Finger trommelten gegen den Gewehrlauf, mal leiser, dann wieder lauter – ein ungeduldiger Galopp in ein neues Leben. Er musterte Bubi, wartete auf dessen Entscheidung. Der sah immer wieder auf seine Uhr und über Wellendingen hinweg nach Bonndorf. Hier, vor Sattlers Haus, konnten sie alles sehen.
»Du willst jetzt eine Antwort,
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