Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Rattentanz

Titel: Rattentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
Vom Netzwerk:
aus erster Hand, dass man in Bonndorf ebenfalls dabei war, sich neu zu organisieren, dass ein Rat gegründet worden war, Straßensperren den Ort abriegelten und ein kleiner Sicherheitstrupp aufgestellt wurde. Es schien, als ob die Menschen überall nach einem bestimmten Schema weitermachten, einem ihnen vor Urzeiten eingepflanzten Rhythmus folgten, der sie zu bestimmten Handlungen zwang. Die einzelnen Gedankengänge und Entscheidungen waren offensichtlich nicht das Ergebnis freien Willens, sondern vorprogrammierte Notwendigkeiten, die einzig in ihrer Reihenfolge und der Gewichtung diverser Punkte variierten. Wann und Wie waren Variable, nicht das Ob.
    Schon am Donnerstagabend, so Stadler, hatten er und zwei seiner Kollegen damit begonnen, die Möglichkeiten, die das Windrad hinter der Stadt bot, zu erkunden. Ihr Plan war einfach: den unterhalb der Windkraftanlage gelegenen Stadtteil vom allgemeinen Stromnetz abkoppeln und durch Windenergie mit Elektrizität zu versorgen.
    Am Donnerstag wurden er und seine Helfer noch belächelt – keiner glaubte, dass der stromlose Zustand länger als ein paar Stunden anhalten würde. Am Freitag schon meldeten sich erste Freiwillige und fragten, ob sie helfen könnten. Heute, am Sonntag, wollten sie damit beginnen und erste Leitungen kappen, andere zusammenfügen. Stadler war überzeugt, dass sie – günstige Winde vorausgesetzt – im Verlauf der kommenden Woche wieder Strom hätten.
    Kiefer begründete sein Pendeln zwischen Bonndorf und Wellendingen damit, dass man in dem kleinen Dorf ohne seine Hilfe aufgeschmissen wäre. Er berichtete Christian Stadler, vor allem aber den Mitgliedern des Bonndorfer Rates, bereitwillig von seinen Leistungen in dem kleinen Dorf: er, Martin Kiefer, habe die Idee eines Ortschafts rates gehabt, der Nahrungsmittelverteilung, die Beseitigung der Leichen auf dem Hardt und, nach verschiedenen Übergriffen durch Soldaten und Plünderer, die Abriegelung des Dorfes organisiert. Er hatte Waffen für den von ihm initiierten Schutztrupp beschafft. Um es kurz zu machen: Kiefer verkaufte sich in Bonndorf als der große Macher, ohne den das kleine Nachbardorf schon längst im Chaos versunken wäre.
    Den wahren Grund seines Engagements in Wellendingen verschwieg er vorsorglich. Es ging keinen etwas an, dass er noch immer an Eva hing, nach so vielen Jahren einfach nicht von ihr lassen konnte. Hätte ihn jemand verstanden? Konnten all die Bauern und Handwerker, die Samstagsrasenmäher und Musikantenstadlgucker verstehen, was er für Eva empfand, dass es wahre Liebe gab? Er lächelte beim Gedanken an all die armen Menschen, wie er seine Umgebung zu nennen pflegte. Sie gaben sich zufrieden mit ihren billigen Existenzen, mit ihren Vorgärten und Autos und langsam anschwellenden Bankkonten. Für ihn aber gab es nur einen Lebensinhalt, nur ein Ziel: Eva, seine große Liebe. Und sie sollte bald Gelegenheit haben festzustellen, dass auch sie ihn noch immer liebte, nie aufgehört hatte, ihn zu lieben.
    Christian Stadler hatte ihn mehr als einmal aufgefordert, Wellendingen sausen zu lassen und wieder nach Bonndorf zu kommen, wo er schließlich hingehöre.
    »Kommende Woche vielleicht«, hatte Kiefer beim letzten Mal geantwortet.
    Sein Haus stand bereit. Und nach diesem nächtlichen Besuch in Evas Schlafzimmer und Bad fühlte er sich ebenfalls bereit. Bereit. Aber er wollte den Moment ihrer erneuten Vereinigung noch ein klein we nig hinauszögern, nur noch einen Tag, ein paar Stunden. Er hatte Jahre gewartet und sich immer und immer wieder vorgestellt, wie es sein wür de, wenn sie endlich wieder zusammen wären. Was seit Mittwoch geschehen war, ging ihm fast zu schnell.
    Er hatte in ihrem Zimmer gestanden und voller Vorfreude das Ypsilon in der Mitte des Raumes betrachtet. Jetzt, während er zu Bubi ging, vergrub er sein Gesicht in dem kleinen Stück Stoff aus ihrem Bad und wusste, was zu tun war. Erregung durchflutete ihn – eine wilde sexuelle Gier, das Gefühl der Macht und eines nahen Sieges. Der Einzige, der wirklich Schwierigkeiten hätte machen können, war irgendwo in Skandinavien verschollen (hoffentlich für immer!) – wer oder was sollte ihm also noch in die Quere kommen? Er wusste, er hatte Zeit, alle Zeit der Welt, alle Zeit dieser neuen Welt. Eine Welt, wie gemacht für Männer wie ihn, Männer, die einen Traum hatten, eine Vision, der bisher immer nur die Schranken einer sogenannten Zivilisation im Weg gestanden hatten. Die Schranken standen seit

Weitere Kostenlose Bücher