Rattentanz
Teufels Haus fand er auf Anhieb wieder. Er blieb stehen. Erneut spürte er eine seltsame Geborgenheit, dasselbe Gefühl, welches ihn bereits am Vorabend verwirrt hatte. Wie kann man sich vom Unterschlupf des Teufels angezogen fühlen? Ist das recht? Darf es sein, dass der Teufel so offensichtlich zwischen Menschen lebt und noch nicht einmal seinen Namen versteckt? Und selbst wenn es sich auch nur um des Teufels Großmutter handelte – durfte sie hier sein?
Ja! Ja, ja, ja! Du darfst! Du darfst!
Wie böse konnte das Böse sein, wenn es sich ihm so bereitwillig mit Namen offenbarte? Hatte sich bisher nicht immer alles versteckt, das Böse wie auch das Gute? Die alte Welt hatte aus Heimlichkeiten bestanden, aus verschleierten Plänen und Taten, die ihn verwirrten, doch jetzt – er las inzwischen schon zum zehnten Mal das emaillierte Namensschild an der verwitterten Haustür –, jetzt stand da deutlich ein Name, der ihm Schauer über den Rücken jagte. War dies eine neue Welt, eine ehrliche Welt, in der sich nicht einmal mehr das Böse verstecken musste? War das, was bisher böse genannt wurde, tatsächlich böse?
»Sehr gut, mein Junge!« Hatte sie seine Gedanken gelesen? »Ich liebe es, wenn Menschen pünktlich sind. Pünktlichkeit ist wichtig, nicht nur für den Wartenden, sondern auch für sich selbst. Anstand und Disziplin, weißt du? Anstand und Disziplin hat man uns früher beigebracht. Heute mag davon kaum noch einer etwas wissen.« Mit unverhohlenem Interesse betrachtete die alte Frau den Besucher. »Aber ich halte dir hier einen Vortrag über Anstand und vergesse da bei selbst alle Höflichkeit«, schimpfte sie sich selbst, aber ihre Entrüs tung war gespielt. Sie trat zur Seite. »Komm herein, Thomas. Du heißt doch Thomas, oder?«
Thomas Bachmann nickte, während er an seinen Fingern nagte. Er zögerte, holte schließlich tief Luft und betrat mit einem großen Schritt Hildegund Teufels Haus. Es knarrte und hinter ihm schloss sich die alte Tür.
Er folgte der Frau durch einen dunklen Hausflur quer durch das Gebäude in einen winzigen Garten, der hinter dem Haus in der Morgen sonne lag. Ein hoher, an vielen Stellen kaputter Lattenzaun umschloss einen lichten Apfelbaum. Zu dessen Füßen wucherten in vielen kleinen Beeten Blumen, Gemüse und Kräuter. Neben der Tür wartete eine verwitterte Bank auf Gäste und von einem Wasserfass flogen Spatzen auf. Eine rotbraune Katze, die offensichtlich in der Sonne gelegen hatte, erhob sich, streckte sich und schmiegte sich mit einem herzhaften Miau an Hildegund Teufels Beine.
Natürlich eine Katze! Jede teuflische Großmutter besitzt eine Katze! Und einen Kräutergarten, in dem sie giftige Pflanzen für ihr Teufelsge- bräu anbaut. Dort hinten, im Gras, werden Kröten und Schlangen gezüchtet, Spinnen und faule Vogelgelege! Hier sind wir richtig! Hier bleiben wir!
»Da ist ja schon, was wir brauchen.« Sie nahm ein angerostetes Mes ser von der Fensterbank und hielt es Thomas hin. »Schneid ab, so viel du für einen kräftigen Tee benötigst. Wenn ich ein paar Jahre jünger wäre, würde ich es selbst machen, aber mein Rücken schmerzt und ist steif wie ein alter Baum. Geh nur und hol etwas und danach wollen wir zur Kirche. Du gehst doch in die Kirche, mein Sohn?« Thomas nickte und griff nach dem Messer. »Das ist gut. Gerade in Zeiten wie diesen. Gott allein weiß nämlich, was los ist und vor allem, wie es weitergehen wird.«
Thomas betrachtete die alte Frau. Sie verwirrte ihn immer mehr. Der Teufel spricht von Gott, spricht gut über Gott? Was war dies für ein seltsamer Ort, überlegte er, wo der Teufel freundlich ist? Es war ein Ort der Sicherheit, der Geborgenheit und der Ehrlichkeit, und zum ersten Mal, seit er sein Fahrstuhlgefängnis verlassen hatte, gab Thomas freiwillig seine schwarze Tasche aus der Hand! Behutsam legte er sie auf die Bank, dann durchquerte er das Gärtchen. Er hatte längst entdeckt, wonach er suchte: in der hintersten, der sonnigsten Ecke des Gartens lag ein verwildertes Kräuterbeet und neben Liebstöckel und Estragon wuchs da zwischen Pfefferminze eine dicke Staude Melisse!
Thomas begleitete Hildegund Teufel mit einem glücklichen Lächeln und einem dicken Bündel duftender Melisse im Arm zur Kirche. Am Haupteingang wartete Frieder Faust. Faust sah übernächtigt aus. Unter seinen geröteten Augäpfeln lagen dunkle Schatten und auf seiner Stirn standen Sorgenfalten, die ihn älter machten.
Wie schon vor zwei Tagen auf dem Hardt
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