Rattentanz
betrachtete die Konstruktion. Er war skeptisch. Ein falscher Knoten und ihnen würde irgendwo auf hoher See der Boden unter den Füßen auseinanderbrechen. Nur eine Unachtsamkeit. Aber es war keine Zeit, alles noch einmal zu kontrollieren.
»Hoffentlich verhält er sich ruhig«, sagte Tina. Sie nahm den Jungen und wollte ihn auf das Floß setzen. Aber der wehrte sich und schrie. Mit Händen und Füßen strampelte und trat er. Er wollte nicht auf das Floß, wollte weiter an dem Stück Brot kauen, das ihm Malow gegeben hatte und wollte weiter Tinas Sandbäume zerstören. Er schrie so laut, dass ihm Tina die Hand auf den Mund legen musste. Alle drei sahen sich um.
Henning Malow nahm Tina das Kind aus dem Arm und brachte es zurück zum Strand. Tina kauerte sich neben ihn und streichelte den Jungen. Er wurde ruhiger, seine Schreie gingen in ein verzweifeltes Schluchzen über.
»Wenn er das auf dem Floß macht, bringt er uns alle in Gefahr«, sagte Hans. Er klang traurig. Malow kramte in seinem Rucksack. Dann ging er zu einer der Hütten und legte zwei Äpfel, ein Stück Salami und ein wenig Käse auf die Veranda. Die Möwe, die offensichtlich nicht mehr von Hans Segers Seite weichen wollte, betrachtete interessiert das Tun des älteren Mannes. Auch Tina verfolgte Malow. Ihre Augen wurden dabei immer größer, jetzt endlich verstand sie!
»Nein! Das geht nicht! Das könnt ihr nicht machen!« Sie wollte Malow hinterher und die Lebensmittel zurückholen, aber Hans hielt sie am Arm zurück.
»Tina, der Kleine bringt uns da draußen alle in Gefahr!« Er zeigte aufs Meer.
»Aber ihr könnt doch kein Baby aussetzen!« Tinas Augen funkelten mit ihrer Zahnspange um die Wette. »Das geht nicht!«
»Ich habe ihm etwas zu essen hingestellt und eine Flasche Wasser. Mehr können wir nicht für ihn tun«, sagte Malow. Er sah zu Boden.
»Das ist Mord! Wenn ihr das macht, seid ihr auch nicht besser als die Typen in Trelleborg!«
»Tina. Tina, bitte.« Malow zerriss es innerlich. Neben ihm spielte das Kind bereits wieder mit ein paar Muscheln. »Selbst wenn der Klei ne sich während der gesamten Überfahrt, die vielleicht eine ganze Wo che dauern wird, mucksmäuschenstill verhält, wird er sich böse erkäl ten. Und wir mit Sicherheit auch. Vielleicht sogar eine Lungenentzün dung. Wie sollen wir ihm dann helfen? Wir können nicht Tag und Nacht auf ihn achtgeben …«
»Ich kann es!«, sagte Tina.
»Es ist nicht dein Kind, Mädchen. Gestern um diese Zeit hast du nicht einmal gewusst, dass es existiert.«
»Aber ich weiß es jetzt und er vertraut mir. Seht ihn euch doch an!« Sie ging einen Schritt zur Seite und zeigte auf den Jungen. »Wollt ihr einfach so davonfahren und ihn hier zurücklassen? Könnt ihr damit leben?«
»Es geht nicht darum, was wir wollen. Wir müssen ihn hierlassen. Vielleicht findet ihn jemand, es ist nicht so weit bis zur Stadt. Ich will es nicht und ich weiß auch nicht, wie ich mit dieser Entscheidung in Zukunft leben werde, aber die Frage ist: er oder wir. Beides geht nicht.«
Malow nahm den Kleinen auf den Arm und brachte ihn zur Veranda. Hans Seger ging zum Floß und zog Tina am Handgelenk hinter sich her. Sie folgte ihm, konnte den Blick aber nicht von den blonden Haaren lassen. Malow rannte zu ihnen zurück, schob das Floß einige Meter ins Meer und sprang schließlich zu ihnen auf das enge Deck. Jeder der Män ner setzte sich auf eine Seite und begann zu rudern. Salzwasser drang bei jeder Bewegung zwischen den Rollen hervor und nach wenigen Augenblicken waren ihre Hosen durchweicht. Tina kauerte in der Mitte des Floßes, neben dem winzigen Häufchen ihrer Vorräte, und weinte. Durch den Vorhang ihrer Tränen sah sie den Jungen auf der Veranda sitzen und mit seinen Muscheln spielen. Er schien ihr Verschwinden noch nicht bemerkt zu haben.
Schnell fanden Hans und Malow einen gemeinsamen Rhythmus. Das Floß mit den drei Personen an Bord entfernte sich Meter für Me ter vom Strand. Neugierig umkreiste Hans Segers Möwe die Menschen. Jeder der drei versuchte den Blick zurück zu vermeiden. Hans Seger starrte zwischen seine Beine. Der Schritt seiner Hose hatte sich vom Wasser bereits dunkel verfärbt als habe er eingenässt. Er dachte an Eva und an Lea. Hoffentlich befanden sich beide in Sicherheit. Er wollte zu ihnen, um jeden Preis der Welt! Aber dass dieser Preis so hoch sein musste! Rudern, stetig rudern und niemals zurückblicken.
Auch Henning Malow ruderte in ihrem gefundenen Gleichklang. Er
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