Rattentanz
zog den Besenstiel mit dem kleinen Brett am Ende durch das dunkle Wasser. Es war, als habe das Fehlen der Sonne auch jegliches Leuchten aus dem Wasser genommen. Er dachte an Lena, die ihre erste Nacht allein in dem Haus am See hinter sich hatte. Wäre ihm bewusst gewesen, wie vollständig die Welt sich in diesen stromlosen Tagen am See verändert hatte, wäre er nicht gegangen.
Oder doch?
Tina weinte. Sie kauerte auf den schwankenden Hölzern, beide Fäuste fest gegen die Augen gepresst.
Plötzlich, sie waren inzwischen zweihundert Meter vom Ufer entfernt, hörte sie den Kleinen schreien, ganz leise nur, aber sie konnte ihn hören. Jetzt erst hatte er ihr Fehlen entdeckt. Tina konnte nicht anders, sie musste die Fäuste wegnehmen.
Nur mit einem dünnen und viel zu großen Hemd bekleidet stand er bis zu den Knien im Wasser, beide Arme nach ihnen ausgestreckt. Er schrie um sein kleines Leben.
Die Männer zögerten kurz, auch sie konnten nicht verhindern, dass sie nach dem Kind sahen, dann ruderten sie weiter. Nein, er würde sie nur aufhalten, ihre Kraft rauben, die sie selbst so nötig hatten. Das Kind war Ballast, der zurückgelassen werden musste. Vielleicht fand ihn jemand.
Plötzlich richtete sich Tina auf. Das Floß schwankte.
»Was machst du da?! Setz dich hin!« Malow beugte den Oberkörper nach hinten, um die Bewegungen, die Tina verursachte, auszugleichen. Sie ging einen Schritt zum Heck, das unter ihrem Gewicht sofort tief ins Wasser eintauchte.
»Ich kann nicht.« Ihre Stimme war traurig, aber entschieden.
»Fahrt ohne mich.« Sie stieß sich ab und sprang kopfüber in das kalte Wasser.
»Tina, komm zurück!«, schrie Hans.
Aber Tina hatte nur noch Augen und Ohren für das, was vor ihr lag. Sie kraulte in langen Zügen ans Ufer. Sie konnte nicht mit diesen beiden Männern zurück nach Deutschland und das Kind hier allein zurücklassen, auch wenn sie wusste, dass die Männer recht hatten. Das Kind war eine Last. Aber nicht für sie. Sie lief die letzten Meter durch das flache Wasser auf den tränenüberströmten Jungen zu. Der fror und zitterte am ganzen Körper. Sie wusste, dass sie das Richtige tat, als sie ihn in die Arme nahm und an ihre nasse Brust drückte. Sie spürte seine Verzweiflung, sein Schluchzen und überhäufte ihn mit Küssen. Nur langsam konnte er sich beruhigen und vergrub sein Gesicht in ihrem nassen Shirt.
»Findus«, sagte sie. Sie trug ihn aus dem Wasser, ging mit ihm in eine der Hütten und fand eine löchrige Decke. Sie zog sein Hemd aus und wickelte ihn in die Decke. »Du sollst Findus heißen, wie Petterssons Kater«, entschied sie.
Findus klammerte sich an ihren Hals. Er wollte sie nie wieder loslassen, nie wieder. Erleichtert atmete er ganz tief durch.
Jetzt erst sah Tina aufs Meer zurück. Die Männer waren weitergerudert und mittlerweile nur noch ein kleiner Punkt am Horizont. Sie winkte ihnen zu.
»Viel Glück.«
80
09:22 Uhr, Wellendingen
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Gleich gehen wir zum Teufelein. / Lässt uns der Teufel wahrhaft ein? / Er will mit uns Melisse schneiden / und danach in die Hölle reiten, hhihi.
Thomas kaute an einem Zwieback und hing seinen Gedanken nach. Er freute sich darauf, zu Hildegund Teufel zu gehen und mit ihr die versprochene Melisse zu schneiden.
Thomas sollte allein gehen. Der Pfarrer war mit dem letzten Schliff seiner Predigt beschäftigt und Eva, die erst weit nach Mitternacht gegangen und bereits vor dem Frühstück zurück war, saß bei Beck.
Das Dorf gefiel Thomas immer besser. Auf seinem kurzen Weg vom Pfarrhaus zur Kate von Hildegund Teufel empfand er zum ersten Mal seit Tagen wieder so etwas wie Ruhe und Zufriedenheit. Zwar lamentierte Nummer zwei halbherzig durch Thomas’ Gedankenwelt, wollte auf den Eiffelturm und nicht als Viehhirte enden, Nummer eins jedoch verströmte angenehmes Wohlbehagen und Nummer drei überschlug sich in Vorfreude auf des Teufels Großmutter.
Drei güldene Haare, verkündete er. Sie hat drei güldene Haare unter ihrem Kopftuch versteckt und jedes davon ist ein goldener Wunsch, den der Teufel uns erfüllen muss! Wir müssen sie suchen, diese Härchen, und finden und sie ihr heimlich ausreißen und uns etwas wünschen …
Der Himmel präsentierte sich fast wolkenleer und nach einer kühlen Nacht dampften Nebel über dem Bachlauf. Thomas trug den Schutz schild seiner Aktentasche vor der Brust. Er spürte darin das har te Metall der Thermosflasche, die sich nach heißem Melissentee verzehrte. So wie er.
Hildegund
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