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Rattentanz

Titel: Rattentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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nickte. Er drückte die Aktentasche noch etwas fester an sich. Er war damals erst sechs und sein Großvater wenige Wochen tot und in der linken Hosentasche wartete Thomas’ erster heiliger Knopf auf Großmutters Tod. Großmutter brachte fast täglich ein neues Bündel Kräuter aus dem Garten und, es war September, heizte bereits am Morgen den Emailherd an. Bei schönem Wetter − an diesem Tag war schönes Wetter − dauerte es oft lange, bis der Rauch des knisternden Holzfeuers den Weg durch den Schornstein hinauf aufs Dach des Bauernhauses gefunden hatte. Dicke, weißblaue Wolken quollen anfangs aus jeder Ritze des Herdes. Auf der Kochfläche des Herdes waren run de gusseiserne Platten eingelassen, die Großmutter manchmal mit ei nem Feuerhaken herausnahm, um einen besonders großen Scheit Holz, der nicht durch die Ofentür passte, ins Feuer zu legen. Der Qualm, der aus den Plattenritzen hervorkam, bildete kreisrunde Rauch kringel, wie vom gespitzten Mund eines rauchenden Riesen geformt. So wie damals.
    Kräuter, der Geruch nach beißendem Qualm und die Pfannkuchen, die seine Großmutter briet, verwoben sich zu einer olfaktorischen Meis terkomposition und waren die duftende Erinnerung, die immer zur Stelle war, wenn Nummer eins sich zu Wort meldete. Was auch erklärte, warum Thomas sich wohl und sicher, ja fast geborgen fühlte, wenn er die Stimme von Nummer eins in seinem Kopf hörte.
    An jenem Septembertag, er saß mit einem Teller auf dem Schoß und einer Gabel in der Rechten auf seiner kleinen Kommode neben dem Herd, machte Großmutter Thomas’ Lieblingsessen: Pfannkuchen mit Sauerkirschmarmelade. Sie briet einen Teigfladen nach dem anderen in einer kleinen Pfanne und ließ sie auf seinen Teller rutschen, bestrich sie mit Marmelade und schnitt sie in kleine Stücke. Immer die laut brutzelnde Pfanne im Auge, beeilte sich Thomas, vor seiner Großmutter fertig zu sein. Beim ersten Pfannkuchen gelang ihm das locker, beim zweiten schmolz sein Vorsprung schon dahin und als der vierte fertig in Großmutters Pfanne lag, war sein Teller meist noch halb voll – Zeichen zum Aufhören.
    Na, den einen wirst du doch wohl noch schaffen!
    Das waren die ersten Worte, die Nummer eins zu ihm sagte. Thomas erschrak, sah sich überall im Raum um − aber außer ihm, seiner Großmutter und Goethe, Großmutters altem Kater, der in einer Holzkiste unter dem Herd schlief, war niemand in der Küche.
    An mich wirst du dich gewöhnen müssen, ich gehöre jetzt zu dir, hatte Nummer eins gesagt.
    »Und wer bist du?«, hatte Thomas laut gefragt.
    »Wer ist wer?« Großmutter hatte ihn damals ziemlich verwirrt angesehen.
    Seit diesem Tag verzichtete Thomas darauf, laut mit seinen Stimmen zu sprechen. Erst Jahre später, mit dem spektakulären ersten Auftritt von Nummer drei, sollte sich dies ändern.
    Hier in der engen Kabine roch es muffig und nach kaltem Metall. Die Dunkelheit hätte ihm zwar gern dabei geholfen, sich an jeden beliebigen Ort der Welt zu träumen und ihn durch keine störende Realität von seinen Fantastereien abgehalten, doch waren die Gerüche im Aufzug wie ein Gewicht, das seinen Geist in die enge Kabine zwang.
    Die schwarze Aktentasche unter den Arm geklemmt, ließ Thomas seine Finger über die kühlen Wände wandern. »Dinge, die du kennst, verlieren ihren Schrecken«, hatte Großmutter einmal zu ihm gesagt, als er sich wegen eines undefinierbaren Rumpelns nicht in die schumm rige Küche traute. Mit diesen Worten war sie vor ihm hergegangen und hatte, nach einem kurzen Blick durch den Raum, auf die Ursache des Geräusches gezeigt. Goethe hatte auf der Suche nach etwas Essbarem einen Tonkrug mit Gänseschmalz umgeworfen. »Siehst du. Die ganze Angst hat sich nicht gelohnt.«
    Die Metallplatten der Fahrstuhlkabine, tastete er, stießen bündig aneinander. Sie waren mit eingelassenen Schrauben befestigt und uneben, wie gleichmäßig mit einem runden Hammer bearbeitet. Als er anschließend den glatten Linoleumboden untersuchte, fand er seinen Ball. Glücklich steckte ihn Thomas ein.
    Nummer eins: Also wenn ich du wäre, würde ich jemanden anru- fen! Thomas stutzte, dann richtete er sich auf. Nummer drei: Oder uns die Telefonschnur, hihi, um den Hals wi- ckeln hihihi. Jaaaa! Und dann musst du auf das Geländer steigen und dich in die Tiiiefe stürzen, hihi.
    Richtig! Neben den Knöpfen für die einzelnen Etagen war in fast jedem Aufzug ein Telefon. Für Notrufe. Oder diskrete Ferngespräche mit Menschen in einem Aufzug

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