Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Rattentanz

Titel: Rattentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
Vom Netzwerk:
dabei fast ununter brochen an der Brust. Larissa war ihre größte Sorge. Sie hatte Angst, dass die Kleine sie verriet, aber der Abstand zwischen Verfolgten und Verfolger war groß genug. Larissa meldete sich nur drei Mal, ohne dass einer der Männer aufmerksam geworden war.
    Sie folgte ihnen über eine Wiese. Aber plötzlich waren die Männer verschwunden! Silvias Herz begann zu klopfen. Wo waren sie?
    Sie rannte los, sie musste die beiden wiederfinden!
    Plötzlich öffnete sich vor ihr der Boden zu einem riesigen Krater. Noch ein Schritt und sie wäre mit dem Kind im Arm den Abhang hinuntergestürzt, den wenige Minuten vor ihr Malow und Hans Seger passiert hatten. Sie konnte im letzten Moment abbremsen und ließ sich ins Gras fallen.
    Gut zehn Meter unter sich sah sie die Männer zwischen Fahrzeugwracks umherlaufen. Offensichtlich waren sie auf der Suche nach einem trockenen Platz für die Nacht. Schließlich entschieden sie sich für einen Lkw, dessen einmal blaue Lackierung von breiten Rostflecken übersät war. Sie kletterten in das Fahrzeug. Wie ein Adlernest thronte es auf dem höchsten Punkt des Schrotthaufens. Silvia zog sich vom Rand der Grube zurück. Der Regen wurde langsam stärker und als sei dies noch nicht genug, war ein böiger Wind aufgekommen. Er durchdrang mit Leichtigkeit ihr dünnes Kleid und klebte es an ihren Körper. Der Stoff modellierte jede Rundung – ein grob gewebter Marmorklotz, aus dem der Regen eine Venus herausmeißelte.
    Sie suchte unter einem Baum Schutz, gab Larissa die Brust und nahm sich ein Stück Käse. Sie war Hans und Malow gefolgt, weil sie sonst niemanden hatte. Sie hatte nicht einmal mehr ein wirkliches Ziel. Was sollte sie im Ruhrgebiet? Gab es auch nur einen einzigen Anhaltspunkt, der dafür sprach, dass es dort besser war als hier? Nein. Gab es wirklich die Hoffnung, bei ihren Eltern Hilfe zu finden? Wieder nein. Gab es überhaupt eine realistische Chance für eine alleinreisende Frau mit Kind, Deutschland unbeschadet von Ost nach West zu durchqueren? Natürlich nicht.
    Der jüngere der beiden Männer, der ihr die Lebensmittel geschenkt hatte und dem sie dafür ihren Körper hatte geben wollen, schien ein netter Kerl zu sein. Warum also nicht in seiner Nähe bleiben? Diese Nähe konnte sie vielleicht beschützen und vielleicht − die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt −, vielleicht gab es am Ziel der beiden auch einen Platz für sie und für Larissa. Die saugte an Silvias Brust und schlief später auf ihrem Schoß ein. Sollte das Kind überleben, würde es in einer Welt aufwachsen, in der man sich abends Geschichten aus der alten Welt erzählte. Geschichten über diese längst vergangene Zeit. Vielleicht gab es dann wieder Elektrizität und in langen Winternächten flimmerten auf den antiken Fernsehgeräten DVDs, die verklärte Geschichten von früher erzählten. Wenn Larissa überlebte. Dann schlief auch Silvia ein.
    Weit nach Mitternacht weckte sie ein Waldkauz, der nach einer Part nerin rief. Silvia sah auf die Uhr, dann legte sie das Kind ins Gras, deckte es zu und steckte ihm den herausgefallenen Schnuller in den Mund. Wunschlos glücklich schmatzte Larissa.
    Silvia ging leise zurück zur Abbruchkante. Sie wollte sich im Schutz der Nacht zu Hans und Malow schleichen und sich ein paar von deren Vorräten stehlen. Nicht viel, auf keinen Fall alles, nur, was sie und Larissa in den kommenden drei oder vier Tagen benötigten. Sie wollte sich den Männern nicht zu erkennen geben, aber sie brauchte etwas von den Lebensmitteln, wollte sie ihre Kleine ruhig halten während der Verfolgung.
    So leise wie möglich rutschte sie den Hang hinab. Sie landete hinter einem verbeulten Kleinwagen, duckte sich und wartete hier einige Sekunden. Alles blieb still. Der Regen tröpfelte in monotoner Regelmäßigkeit – ein leises, einschläferndes Rauschen.
    Als sie sicher sein konnte, dass Hans und Malow nichts bemerkt hatten, kroch sie auf allen vieren über den freien Platz, der sie von dem Fahrzeugstapel trennte, auf dem das Nest der Männer hockte. Sie schürfte sich beide Knie und Hände auf und als sie sich wieder aufrichtete, war sie von Kopf bis Fuß mit Schlamm beschmiert. Sie setzte den nackten Fuß auf den Kofferraumdeckel des untersten Wagens, ein leichtes Vibrieren, mehr nicht. Sie kletterte weiter auf sein Dach und zum Wagen darüber. Sie konnte jemanden schnarchen hören, ganz nah. Sie zog sich auf das Auto, ein glasloser Außenspiegel brach ab, schepperte zweimal

Weitere Kostenlose Bücher