Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Rattentanz

Titel: Rattentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
Vom Netzwerk:
brauchte.
    »Wir sollten uns morgen nach ein paar Decken umsehen«, sagte Hans und zog ein paar Zweige zu sich heran.
    Es stimmte, die Welt drehte sich weiter, unbeeindruckt von der Katastrophe auf ihrem Rücken. Oder war es gar keine Katastrophe? Evolution? Natürliche Auslese? Ein moderner Meteoriteneinschlag? Die Welt drehte sich weiter und mit ihr der Sternenhimmel.
    Sie schliefen mit ihren Rucksäcken im Arm ein, satt und müde, während zur selben Zeit überall auf der Welt Menschen starben. In Krankenhäusern und Altenheimen vertrockneten Tausende Vergessene, in ihren Wohnungen erschlugen Familienväter ihre Frau und ihre Kinder, bevor sie sich neben ihnen erhängten. Frauen verkauften ihre Körper.
    Im Einschlafen sah Hans Seger einen Schatten am Seeufer. Er war zu müde, um sich darüber Gedanken zu machen, bestimmt nur ein Tier. Nur ein Schatten.
    Am nächsten Morgen, dem 7. Juni, einem Donnerstag, erwachten beide mit einem gehörigen Brummschädel. Der billige Wein hatte seine Wirkung nicht verfehlt. Sie badeten im See, dann packten sie ihre Sachen. Der Himmel hatte sich über Nacht mit dicken Wolken be zogen und aller Voraussicht nach gab es heute noch Regen.
    Sie kamen gut voran, fühlten sich, von ihren Köpfen abgesehen, kräftig und gesund und hofften, heute den Gürtel aus Hunger und Gewalt, der Berlin wie ein Schatten umgab, zu verlassen. Sie benutzten ausschließlich unbefestigte Wald-und Feldwege oder schlugen sich querfeldein nach Südwesten und gingen jedem menschlichen Kontakt konsequent aus dem Weg. Sahen sie einen einzelnen Reisenden oder eine Gruppe Menschen, versteckten sie sich im Unterholz und warteten, bis diese vorüber waren. Entdeckten sie ein Haus oder Dorf, wanderten sie in einem sicheren Bogen um dieses herum. Dass diese Art der Fortbewegung sehr viele Umwege mit sich brachte und kostbare Zeit verschlang war ihnen klar, aber vor der Wahl stehend, langsam aber sicher oder schnell und gefährlich zu reisen, hatten sie sich für die langsame Variante entschieden. Lieber so, als mit eingeschlagenem Kopf im Unterholz verrotten wie so viele andere.
    Sie stießen immer wieder auf Leichen, selbst hier auf ihrem abgele genen Weg. Einigen war die äußere Gewalteinwirkung deutlich anzu sehen, andere mussten an Krankheiten, Erschöpfung oder Durst gestorben sein. Es waren vor allem Alte, die schon vor Tagen mit dem Sterben begonnen hatten und jetzt langsam am Wegrand verwesten. Gegen Mittag fanden sie ein altes Paar, das Arm in Arm leblos an einem Baum lehnte. Das Gepäck der beiden bestand aus zwei großen Rei setaschen. In einer fanden sie zwei Wolldecken, die andere war bis oben mit lose zusammengepressten Geldscheinen gefüllt. Sie nahmen die Decken und zogen dem Mann seinen Mantel aus. Dann legten sie seine Hand zurück in ihre.
    Die Nacht verbrachten sie nahe der Stadt Brandenburg auf einem seit Jahren verlassenen Schrottplatz. Er lag in einer ehemaligen Kiesgrube, von außen kaum zu erkennen. Eine rot-weiß gestrichene Kette und ein verbogenes Schild (Betreten verboten! Eltern haften für ihre Kinder, darunter LEBENSGEFAHR) waren die einzigen Warnungen. Erst, als sie unmittelbar an der Abbruchkante standen, sahen sie, wo sie gelandet waren. Sie rutschten eine Böschung hinunter.
    Der Schrottplatz war von seinem bankrotten Besitzer schon vor Jahren aufgegeben worden. Seitdem rosteten die Relikte der sozialistischen Kraftfahrzeugkultur stapelweise vor sich hin. Worauf die Bürger der damaligen DDR oft zwei Jahrzehnte hatten warten müssen, verlor nach der Wende 1989 über Nacht seinen Wert. Die gegen VW, Opel und Toyota eingetauschten Trabants, Wartburgs und Co. landeten hier. Im Fahrerhaus eines verrosteten Lkws, ein 1972er W50, fanden sie einen trockenen Platz. Sie kletterten über zwei Etagen Schrott zu dem Fahrzeug und krochen durch die eingeschlagene Windschutzscheibe in die Kabine. Als sie in ihrem Versteck waren, aßen und unter ihren neuen Decken einschliefen, ahnten sie nichts von der Katastrophe, die noch in dieser Nacht über sie hereinbrechen sollte.
    Silvia Hofmuth verfolgte sie seit ihrer Begegnung am Vortag. Sie hatte die Männer am See beobachtet und, nach deren Aufbruch am Morgen, die Überreste ihres Lagers nach Essbarem durchsucht. Zwar besaß sie noch die komplette Wurst und hatte auch erst die Hälfte des Käses gegessen, trotzdem hoffte sie auf mehr.
    Während sie Hans und Malow folgte, hielt sie einen Abstand von mindestens fünfhundert Metern und ihre Tochter

Weitere Kostenlose Bücher