Rattentanz
ein wenig Strom erzeugen, können wir den nicht essen«, sagte Eisele.
»Da haben Sie natürlich recht, aber unterschätzen Sie nicht den psy chologischen Aspekt. Ich kann mir vorstellen, dass es die Moral der Masse deutlich anhebt, wenn sie am Abend in ein helles Haus zurückkehrt. Und wenn dann auch noch ihr Lieblingslied aus einem Laut sprecher kommt, werden sie am nächsten Tag mit doppeltem Elan bei der Arbeit sein! Aber wir müssen uns auch an die Alten wenden, die noch am ehesten wissen, welche Beeren essbar sind, welche Wurzeln und Pilze. Wir müssen Bubi und Martin Kiefer unterstützen und endlich zwei, drei Männer für sie abkommandieren. Und wir müssen unbedingt die Arbeiten im Stall und auf den Feldern besser organisie ren.«
»Stimmt. Am Anfang konnten wir uns vor Freiwilligen kaum retten, heute hilft jeder gerade noch so viel, wie für die Kanne Milch, die er braucht, notwendig ist.«
»Genau das meine ich. Wir müssen den Jungen und Gesunden erklären, dass sie es sein können, die morgen schon auf die Hilfe aller an gewiesen sind. Ich will bestimmt keinen sozialistischen Staat hier aufbauen, ich kann aber auch nicht zusehen, wie sich jeder in seinen Bau zurückzieht und die Augen vor dem Elend der Nachbarn verschließt.«
»Oder sein eigenes Elend versteckt. Weil er sich schämt.«
»Glauben Sie, wir können uns noch einmal motivieren?«
»Wenn Frieder hier wäre …«
»Ist er aber nicht!«, unterbrach ihn Assauer. »Wir müssen aufhören, Faust nachzuweinen. Keiner weiß, ob und − wenn ja − wann er wieder einsetzbar sein wird. Aber wir müssen uns um ihn kümmern. Auch um Susanne und Eva und Lea und und und. Die Reihe ließe sich endlos fortsetzen. Auch um Hildegund Teufel müssen wir uns mehr kümmern. Ihr Husten macht mir Sorgen.« Wie zur Bestätigung seiner Worte drang durch das geschlossene Fenster über ihnen das Bellen der Alten.
»In Zeiten wie dieser«, sagte Eisele, »wäre ein freundlicher Diktator das richtige Rezept, einer, der den anderen sagt, wo es langgeht. Ende der Diskussion. Punkt. Fertig. Aber so? Jeder hat eigene Wünsche und Vorstellungen und wenn selbst unser Vorsitzender kaum noch Interesse an der gemeinsamen Sache zeigt, steht es mit uns allen offensichtlich schon ziemlich schlecht.«
»Genau das ist unser Problem.«
»Basler?«
»Nein. Ich meine den Einzelnen mit seinen eigenen Vorstellungen und Interessen. Dieses Problem müssen wir beseitigen.«
»Und wie? Wir alle sind Individuen, die …«
»Jetzt nicht mehr«, unterbrach ihn Assauer erneut.
»Wie?«
»Individuen. Die Zeit des Individuums ist temporär erst mal vorbei.«
»Soll das heißen, wir sehen alle bald gleich aus, Uniform und so?«
»Es ist eine Definitionssache. Wenn wir Äußerlichkeiten und Vorlieben zugrunde legen – gut, dann bleiben wir Individuen. Aber dann sind auch Kühe oder Vögel Individuen. Ihre Flecken oder Federn unterscheiden sich voneinander, die Form ihrer Hörner. Die eine frisst lieber Löwenzahn, eine andere bevorzugt Beifuss.«
»Das lässt sich ja wohl nicht miteinander vergleichen«, sagte Eisele. »Oder wollen Sie behaupten, dass wir uns zu Tieren entwickeln?«
»In gewisser Weise schon. Natürlich hat Individualität auch etwas mit Selbstbewusstsein zu tun. Nur, wer sich seiner selbst bewusst ist und sich gestaltet, erlangt Individualität. Wie ausgeprägt diese letztendlich ist, wird zum einen von der Persönlichkeit des Einzelnen, vor allem aber auch vom Faktor Zeit bestimmt, den er zur Verfügung hat, um seine Individualität zu entwickeln. Individualität ist die höchste Form des Luxus’. Wir können ihn entwickeln und pflegen und fördern, aber nur, solange das menschliche Überleben gesichert ist. Erst diese Sicherheit gibt den Raum für Individualität. Im Moment aber sind wir nichts anderes als ein Ameisenstaat.«
»Ein saumäßig organisierter.«
»Ich hätte es vielleicht etwas anders formuliert, aber wahrscheinlich nicht treffender«, sagte Assauer. »Wissen Sie, wir alle haben ein Ziel: unser Überleben. Das Überleben unserer Kinder. Arterhaltung nennt man das wohl in der Tierwelt. Arterhaltung definiert auch exzellent den einzigen Antrieb aller Lebewesen. Es geht nicht um den Ein zelnen, niemals. Die kleinste biologische Maßeinheit ist die Sippe, dann die Rasse und die muss überleben, auch wenn für dieses Ziel vielleicht das eine oder andere Individuum sterben muss. War sein Tod hilfreich für das Überleben der Sippe oder Rasse, dann war
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