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Rattentanz

Titel: Rattentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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hatte er beim Gedanken daran noch Mühe, seinen spärlichen Mageninhalt bei sich zu behalten. Der Alte hatte um die Amputation gebeten, nachdem sein Bein trotz Antibiotika dicker und dicker geworden war und sich aus der klaffenden Wunde ein steter Fluss stinkender Säfte ergoss. Die Amputation war die einzige Hoffnung auf sein Überleben.
    »Wir haben ihn gehalten und er hatte ein Stück Holz im Mund, auf das er beißen konnte. Hat irgendeiner mal im Fernsehen gesehen. Eva Seger hat eine Säge abgekocht und dann gesägt. Sie war kreidebleich. Obwohl sie ihm das Bein mit einem Seil abgebunden hatte, hat er geblutet wie ein Schwein und mindestens genauso laut geschrien. Dann ist er zum Glück in Ohnmacht gefallen und hat nichts mehr gespürt. Selbst als wir den Stumpf mit einem glühenden Messer verödeten, hat er nur kurz gezuckt.«
    Hildegund Teufel schob den Teller mit ihrem angefangenen Keks zurück in die Tischmitte.
    »Wird er überleben?«
    »Wohl eher nicht«, antwortete Eisele. »Eva meint, dass sie sich nicht vorstellen kann, dass die Amputation etwas nützt. Er hat zu lan ge gewartet und wahrscheinlich haben sich die Keime schon im ganzen Körper verteilt. Aber ohne die Amputation wäre er auf jeden Fall gestorben.«
    Sie schwiegen. Die Hausherrin dachte an den letzten Krieg und an die vielen, vielen jungen Männer, denen reihenweise Gliedmaße entfernt werden mussten. Viele von ihnen hatten überlebt, aber es waren auch junge, ansonsten kerngesunde Menschen gewesen.
    Assauers Gedanken wanderten zu dem, worin er sich auskannte wie nur wenige: dem Gestern, der Vergangenheit. Geschichte und Archäologie waren sein Leben. Oft war er zu den Originalschauplätzen seiner Studien gereist und hatte sich vorgestellt, wie es hier einmal vor Hunderten oder Tausenden von Jahren ausgesehen haben mochte. Er hatte sich die Menschen vorgestellt, ihre Behausungen und Tiere und die Gesellschaft, in der sie gelebt hatten. Er lächelte bitter – seine Wünsche hatten sich auf makabere Weise erfüllt: die Welt war heute ein grandioses Studienobjekt. Das Mittelalter des einundzwanzigsten Jahrhunderts.
    »Ich habe das Gefühl, dass jetzt erst alles endgültig zusammenbricht.« Eisele und Assauer hatten Hildegund Teufel ins Bett geschickt und ihr versprochen, am kommenden Tag nach ihr zu sehen. Jetzt stan den sie unter der lichtlosen Laterne vor ihrem Haus und flüsterten. Als Assauer nicht antwortete, fuhr Christoph Eisele fort: »Seit Frieder krank ist, gibt es niemanden mehr, der die Probleme sieht und auch anpackt. Vor zwei Wochen − ja, selbst noch vor einer Woche − waren wir hier wie ein Mann, jetzt macht jeder seins und viele, von denen ich sicher weiß, dass sie noch im Dorf sein müssen, habe ich seit Tagen nicht mehr gesehen.«
    »Warum gehen Sie nicht einfach zu ihnen und sehen nach?«
    Eisele ließ sich mit der Antwort lange Zeit. Er starrte die Dorfstraße hinunter auf Konstantin Fehrenbachs Geburtshaus. Da war er geboren, der große Sohn Wellendingens, der es bis zum Reichskanzler gebracht hatte. Wüsste der Rat? Könnte er mit dieser Zeit umgehen?
    »Weil ich Angst habe«, sagte Eisele endlich. »Ich habe Angst, dass ich auf Leichen treffe. Oder auf hungernde Kinder, denen ich nichts geben kann. Ich habe vor Krankheiten Angst.«
    »Nein«, widersprach Assauer. »Sie haben weder vor dem Tod noch vor Krankheit oder Hunger Angst.« Eisele wandte den Kopf und betrachtete den Älteren. »Das Einzige, glaube ich, was Sie zurückhält, ist Ihre Hilflosigkeit. Was sollen Sie bei den Menschen, wenn Sie doch nur mit leeren Händen kommen?«
    Eisele nickte, Assauer hatte den Nagel auf den Kopf getroffen.
    »Wie lange wird das bisschen Getreide unten in der Mühle noch rei chen?«, fragte Assauer.
    Eisele überlegte einen Moment. »Wenn die Einwohnerzahl stabil bleibt, könnte es mit etwas Glück bis Ende August reichen.«
    »Die Einwohnerzahl wird weiter abnehmen, glauben Sie mir. Wir werden noch viele von uns zu Grabe tragen, bevor die Erntezeit einsetzt. Aber wenigstens haben wir noch die Milch.«
    »Und was sollen wir bis zur Ernte unternehmen? Wir können doch nicht tatenlos dasitzen und hoffen, dass Faust bald wieder gesund wird und uns sagt, was zu machen ist!«
    »Wir könnten uns auf den Winter vorbereiten. Holz sammeln. Und wir sollten einen Elektriker finden und uns endlich um das Windrad kümmern.«
    »Bindet das nicht zu viel wertvolle Arbeitskraft? Und selbst, wenn es klappt und wir mit dem Windrad ab und zu

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