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Rattentanz

Titel: Rattentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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Spiegel stand und seinen Vollbart im Licht der Taschenlampe betrach te te, übersah er die Spuren, die nächtliche Tränen auf seinen schmutzigen Wangen hinterlassen hatten. Während er noch ein paar Kleidungs stücke für Hermann Fuchs in eine Plastiktüte stopfte, fiel ihm sein eigener beißender Geruch auf. Er roch wie der vergorene Furz eines senilen alten Hundes, der unter dem Wohnzimmertisch liegt, auf sein Ableben wartet und dabei seine Umwelt schon einmal geruchlich auf den kommenden Hundezustand vorbereitet. Kiefer stank.
    Er ließ den Beutel fallen, ging zurück ins Bad und sprühte sich ausgiebig sein Lieblingsdeo unter beide Arme. Frauen assoziierten mit diesem Geruch unweigerlich Männer im Unterhemd, bewaffnet mit einer Flasche Bier und Sportschau glotzend, er aber fand den Duft erotisch. Anschließend kontrollierte er sein Maschinengewehr, dann verließ er das Haus. Er musterte den Himmel. Aus einer tief liegenden Wolkendecke begrüßte ihn feiner Nieselregen. »Scheiß Schafskälte«, murmelte er und zog den Reißverschluss seiner Jacke bis unters Kinn. Die Stadt Bonndorf zählte vormals fast fünftausend Einwohner. Vormals. Der 23. Mai hatte diese Zahl deutlich nach unten korrigiert. Der Brand des Schlosses, bei dem auch achtzehn umliegende Gebäude in Flammen aufgegangen waren, Plünderungen, Vergewaltigungen und Morde vertrieben die Menschen. Und kaum einer von ihnen kehr te zurück. Heute zählte Bonndorf gerade noch fünfzehnhundert Frauen, Männer und Kinder.
    Als eine Woche nach dem 23., in den letzten Maitagen, noch immer keine Aussicht auf eine Rückkehr zum gewohnten Leben bestanden hatte, setzte eine zweite Fluchtwelle ein. Aber jetzt gingen − wie überall in Deutschland, Europa und der Welt − nicht die, die zu Verwandten wollten; die waren längst unterwegs. Hunger löste den zweiten Aufbruch aus, eine Fluchtwelle, die Millionen zur Wanderschaft trieb und für einige Tage dafür sorgen sollte, dass die Straßen überall von Umherirrenden bevölkert wurden. Ihren Höhepunkt erreichte die Massenwanderung Anfang Juni. Von da an waren täglich weniger Menschen unterwegs, stieg im Gegenzug die Zahl der unbeerdigt am Wegesrand verrottenden Leichen.
    In Bonndorf hatte man gerade noch rechtzeitig, dem Beispiel Wellendingens folgend, großräumig Straßensperren angelegt und Bewaffnete an den Hauptverkehrsadern postiert, die auch nicht zögerten, von ihren Waffen Gebrauch zu machen. Den Fehler des 30. Mai wollte keiner noch einmal begehen.
    Am 30. Mai hatte man eine Gruppe, die angeblich aus Neustadt kommend weiter nach Schaffhausen wollte, passieren lassen. Sieben oder acht Männer, einige Frauen und drei Kinder. Kaum waren die Frem den in der Stadt, hatten sie Maschinengewehre aus ihrem Gepäck gerissen und ohne Vorwarnung um sich geschossen. Anschließend waren sie in das Rathaus gestürmt, hatten einen alten Mann, der sich ihnen entgegenstellte, aus dem Fenster geworfen und − nachdem sie hier nichts Verwertbares gefunden hatten − ein Gasthaus nebenan überfallen. Hier erbeuteten sie ein paar Nahrungsmittel und töteten vier weitere Personen: den Wirt, seine Frau und ihre beiden Söhne. Seit diesem 30. Mai wurde jeder, der mit Gewalt versuchte, in die Stadt zu kommen, erschossen. Am Anfang waren es Dutzende, heute hingegen schreckte allein der Anblick der verfaulenden Leichen vor den Barrikaden die wenigen ab, die noch unterwegs waren. Kiefer ließ das Stadtgebiet hinter sich, überquerte eine morastige Wiese und erreichte schließlich das Waldstück, welches er erst wieder kurz vor seinem Ziel verlassen musste. Er verschwand zwischen Strauchwerk und eng stehenden Tannen.
    Als er in der Nähe seines Zieles aus dem Wald trat, versperrten noch immer Wolken den Blick auf die untergehende Sonne. Noch ein paar Meter nach rechts, dann nahm er unter einer weit überhängenden Fichte auf einer feuchten Bank Platz. Von hier aus hatte er einen grandiosen Blick auf Wellendingen, das auf dem Bergrücken dahinter liegende Bonndorf und die anschließenden Schwarzwaldhügel. Kiefer wusste: wäre nur der Wille da, könnte er es in Bonndorf zu etwas bringen. Die Wellendinger hatten auf ihn gehört, obwohl er eigentlich nie richtig zu ihnen gehört hatte, warum also nicht auch die Bonndorfer? Aber für ein solches Leben in der Gemeinschaft hätte er das Wichtigste aufgeben müssen, was es gab. Oder aber aufschieben. Doch er hatte über ein Jahrzehnt auf eine Gelegenheit wie diese gewartet und wenn er sie

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