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Rattentanz

Titel: Rattentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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kletterte den Hang hinauf. Zweimal hatten sie bisher versucht, Hans eben diesen Hang hinaufzuschaffen. Zweimal war Hans auf halbem Weg zurückgerutscht. Für Malow waren diese Gefängnismauern aus Erde und Kies kein Problem. Mit wenigen Schritten hatte er die zwölf Meter Höhenunterschied überwunden, grüßte kurz mit einem Winken und verschwand.
    Henning Malow marschierte nach Westen. Dort hatte er vor Tagen eine Handvoll Häuser entdeckt − ein winziges Dorf mit inzwischen kaum mehr als vierzig Bewohnern. Malow wusste, dass es in diesem Dorf alles gab, was sie zu Segers Befreiung benötigten, die erzwungene Wartezeit hatte ihm reichlich Gelegenheit gegeben, die Umgebung auszukundschaften. Hans Segers Rettung aus der Kiesgrube war eine Notwendigkeit, auch eine Notwendigkeit für ihn. Dies gestand er sich zwar nur ungern ein, aber es war nun einmal so. In aller Ruhe hatte Malow die Möglichkeit durchdacht, Hans einfach zurückzulassen. Er selbst war alles andere als jung und kräftig, aber er fühlte sich stark genug, die Reise nach Rom zu schaffen. Und von diesem Ziel würde ihn auch nichts und niemand auf der Welt abbringen. Aber ebenso wenig war er heute noch in der Lage, einfach davonzumarschieren und Hans seinem Schicksal zu überlassen. Nein, Hans Seger musste gerettet werden – für Henning Malow. Malow erreichte das erste Haus der Siedlung kurz vor Mittag. Die Sonne stand hoch und ihm rann der Schweiß in Strömen vom Körper. Der Trageriemen der schweren Waffe scheuerte seine Schulter wund und er hatte Durst. Aber weder das eine noch das andere schien in seinem Bewusstsein anzukommen. Er versteckte sich in einem nahen Gebüsch und wartete.
    Henning Malow wartete vier Stunden. Er beobachtete zwei Männer, die in seinem Alter sein mussten und mit Flinten − oder Knüppeln, die wie Flinten wirkten − ihren kleinen Ort beschützten. Sie umrundeten den Ort auf Feldwegen und für die Zickzackbahn dieser Runde benötigten sie zuerst eineinhalb gemütliche Stunden, danach wurde es mehr. Aber dies war auch zweitrangig. Malow wusste, dass er für seinen Überfall nicht mehr als ein paar unbeobachtete Minuten brauchte.
    Auf der anderen Seite des Dorfes war ein Dutzend Männer und Frau en mit zwei Pferden auf einem Feld beschäftigt, eine zweite Grup pe versuchte in der Ortsmitte den vor Jahren zugeschütteten Dorfteich neu anzulegen. Den kleinen Bach, der sich zwischen den Häusern hindurchwand, hatte die Trockenheit der vergangenen Woche in ein trauriges Rinnsal verwandelt, welches kaum noch ausreichte, Mensch und Vieh zu versorgen. Die schmale Straße, die von Norden die Häuser erreichte und hier endete, hatte man mit mehreren Autos blockiert, davor hing zwischen zwei Bäumen quer über das Sträßchen ein Brett:
    »BETRETEN VERBOTEN«.
    Nach vier Stunden endlich geschah, was Malow erstmals vor drei Tagen, bei einem Kontrollgang gestern dann ebenfalls beobachtet hatte. Die Arbeiten auf dem Feld wurden eingestellt, die Gruppe kam zurück und zerstreute sich zwischen den Häusern. Bald war nur noch eine Frau in mittlerem Alter übrig, die ihre beiden Pferde hinter sich zu ihrem Haus führte. Ihren Mann, der die beiden Tiere im letzten Sommer gekauft hatte und der es liebte, mit seiner Frau am Abend über die endlosen Felder der Umgebung zu galoppieren, hatte sie vor acht Tagen beerdigt. Er hatte schon vor der Katastrophe, die man hier die GROSSE SCHEISSE nannte, Probleme mit seinem Weißheitszahn gehabt. Damals hätte er noch zu einem Arzt gehen können, keine zwölf Kilometer von hier gab es in der Kreisstadt einen guten Zahnarzt. Aber der hatte jetzt wahrscheinlich geschlossen, war eh zu spät. Der vereiterte Zahn hatte ihren Mann umgebracht.
    Malow robbte durch einen trockenen Abflussgraben. Keine zehn Meter vom Stall entfernt, den die Frau inzwischen von der anderen Seite her ebenfalls erreicht hatte, sprang er hervor und lief zum Gebäude. Im Schatten des weit vorstehenden Daches wartete er einen Moment. Er rang nach Atem und seine Kehle brannte. Von den beiden Bewachern war nichts zu sehen. Malow schlich um das Haus herum. Er hörte das Quietschen der zweiflügeligen Stalltür.
    »Na, kommt ihr Braven«, sagte die Frau zu ihren Tieren. »Kommt. Lass das, Schwarzer! Meine Haare sind nichts für dich. Weißchen, komm, du auch, Schwarzer. Ich muss euch abtrocknen. Dann bring ich euch Futter. Wenn noch etwas da ist. Schwarzer, Weißchen …« Sie hatte die Pferde in den Stall getrieben und wollte die Tür von

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