Rattentanz
erreicht. Er gab Silvia die Schuld und hatte sich von Hans nur mit Mühe zu einem Waffenstillstand überreden lassen. Nachdem Malow mit Silvias Hilfe Hans befreit hatte, streckten sie gemeinsam sein gebrochenes Bein. Seger wurde ohnmächtig und bekam nicht mehr mit, wie sie es schienten.
Als er aus seiner Ohnmacht erwachte, sah sein Bein von außen fast normal aus. Es war wieder gerade und zwei Stöcke, rechts und links ans Bein gebunden, hielten es in dieser Position. Hans Seger hatte Glück im Unglück: Es handelte sich um einen sauberen, glatten Bruch und nichts deutete darauf hin, dass eine Entzündung zu erwarten war. Silvia entschied sich, mit Larissa bei den beiden Männern zu bleiben. Ein Verletzter und ein Mann, der sie offensichtlich nicht ausstehen konnte, schienen ihr sicherer als Chaos und Gewalt außerhalb der Kiesgrube. Malows Proteste gegen diesen Entschluss ignorierte sie mit der Nonchalance einer Frau, die es gewohnt war, weggeschickt zu werden. Anfangs ernährten sie sich von dem, was von ihrem Raub in Glambeck noch übrig war. Als dies fast aufgebraucht war – trotz Malows Einspruch teilte Hans Seger seine Rationen mit Silvia und ihrer Tochter – verwandelte Malow seine oft mehrstündigen Erkundungstouren der Umgebung in kleine Raubzüge. Aber was er ihnen mitbrachte, konnte sie auf Dauer nicht ernähren. Malow plünderte Vogelnester, während Silvia wilde Erdbeeren sammelte und Hans auf Larissa aufpasste.
Und auch wenn Henning Malow manchmal im Gepäck der vielen Toten, die überall herumlagen und langsam in der Sonne verfaulten, ein vergessenes oder aufgespartes Relikt aus besseren Zeiten fand (ein paar eingeschweißte Scheiben Wurst, eine Tüte Haferflocken, eine Cola), war ihnen doch allen klar, dass sie bis zu Hans’ Genesung hier niemals würden überleben können. Seit der Unglücksnacht, in der Malow ohne Hans’ Hilfe in einer Pfütze ertrunken wäre, hatte es nicht mehr geregnet. In den umliegenden Kiefernwäldern und einsamen Alleen stank es bestialisch. Obwohl sie einige Kilometer abseits der (ehemaligen) Autobahn, die die Hauptstadt nach Süden mit Leipzig, Nürnberg und München verband, lagerten und sich im Umkreis von zehn Kilometern nur drei winzige Dörfer befanden, schienen sich doch Tausende zum Sterben hierher zurückgezogen zu haben. Aber Malow wagte sich nicht vorzustellen, dass dies ein weltweites Phänomen sein sollte. Und doch war es so. In der Hoffnung, auf dem Land etwas Essbares zu finden und der rohen Gewalt in den Ballungsräumen zu entkommen, waren Millionen Men schen auf der Flucht. Aber wo immer sie auch hinkamen, wovor sie flohen − Hunger − wartete bereits auf sie. Es war wie bei der Fabel vom Hase und dem Igel; man konnte laufen so schnell es nur ging, der andere war doch vor einem selbst da.
Die Dörfer schotteten sich überall ab und bewachten gemeinsam ihre Äcker und Gärten und ihr Vieh. Das Vieh war vielen inzwischen wichtiger als die eigenen Kinder. In den Tagen direkt nach der Katastrophe konnten die Reisenden mit etwas Glück noch auf Gastfreundschaft und Großzügigkeit hoffen. Mit jedem Tag aber, der verging, spuckten die Städte mehr und mehr Hungernde aus ihren Leibern. Auch in den Dörfern wurden die Vorräte knapper und Gastfreundschaft von Äxten, Mistgabeln und Knüppeln abgelöst. Gewinner dieser ersten vier Wochen schienen kleine Gruppen zu sein, die, oft mit martialischem Äußeren und bis an die Zähne bewaffnet, an besonders frequentierten Straßen lauerten oder aber marodierend die Umgebung ihrer Lager terrorisierten. Sie überfielen ganze Dörfer, raubten und vergewaltigten und brannten zum Schluss alles nieder. Wer überlebte, verhungerte Tage später. Immer wieder aber trafen diese Banden auch auf Dörfer, die sich bewaffnet hatten und wild entschlossen waren, diese Waffen einzusetzen. Egal, ob man sich als Einzelner oder in Gruppen einem Ort nä herte, die Begrüßung fiel immer feindselig aus und Malow gab die Hoffnung, etwas erbetteln zu können, nach zwei misslungenen Versuchen wieder auf. Er war sogar beschossen worden und konnte nur mit knapper Not entkommen.
Alle jene, die sich aufgemacht hatten und nach was auch immer auf der Suche waren, schien eine innere Stimme von großen Menschenansammlungen wegzulocken und so kam es, dass auf Feld-und Waldwegen bald mehr Menschen unterwegs waren als auf Autobahnen und Fernstraßen. Vielleicht schickte sie auch ein uralter Instinkt zum Sterben dahin, wo sie erwarteten, allein zu
Weitere Kostenlose Bücher