Rattentanz
hoffte, bald die ersten Gehversuche unternehmen zu können.
»Welche Sorten Mensch meinst du?« Hans hielt Larissa auf seinem Schoß. Die Kleine, bald ein Jahr alt, quiekte vergnügt und genoss allem Anschein nach den Ausflug. Solange sie satt war, bedeutete alles Abenteuer und Vergnügen.
»Den da zum Beispiel.« Malow zeigte auf eine Leiche im Straßengraben. Sie musste eines der ersten Opfer dieser neuen Zeit gewesen sein, denn schon war nicht mehr einwandfrei zu erkennen, ob es sich um eine Frau oder einen Mann handelte. Die Augenhöhlen waren leer und an mehreren Stellen schimmerten blanke Knochen zwischen den letzten schwarzen Geweberesten hervor.
»Ich vermute«, nahm Malow den Gedanken wieder auf, »dass die erste Gruppe inzwischen nicht mehr existiert. Zu ihnen zähle ich die, die in Panik gerieten und drauflosrannten, wohin, wussten sie wahrscheinlich selbst nicht. In der überwiegenden Mehrzahl wahrscheinlich Städter ohne tiefere soziale Bindungen. Leute eben, deren absolu tes Zentrum in der Anonymität einer Großsiedlung lag. Und so eine war in den ersten Tagen sicher der schlechteste Ort zum Leben. Oder, Silvia? Hab ich recht?«
Silvia, die den Schwarzen am Zaumzeug führte, ignorierte Malows Frage. Sie wollte nicht über die Tage in der Stadt sprechen. Nicht über die Plünderer und Mörder, nicht über ihre Einsamkeit, Angst und Todessehnsucht. Wäre Larissa nicht gewesen, hätte sie sich das Leben genommen. Aber das musste Malow nicht wissen. Nur, weil er sie seit gestern ab und zu in die Gespräche mit einbezog, war er noch lange nicht ihr Vertrauter.
»Du glaubst, von denen lebt keiner mehr?«
»Vielleicht hatte der eine oder andere Glück und jemand hat sich seiner erbarmt. Aber glaubst du, eine Chemielaborantin aus Leipzig oder ein Hochschulprofessor aus Berlin wissen, wie man in diesem seltsamen Leben zurechtkommen soll? Das Gros von ihnen dürfte inzwischen verhungert sein. Und aus den Übriggebliebenen rekrutierte sich dann Gruppe zwei.«
»Die da wären?«
»Die Banden, die überall umherziehen. Oder umherzogen.« Malow spielte auf die Tatsache an, dass sie in den letzten Tagen tatsächlich kaum noch lebende Mitglieder dieser zweiten Gruppe gesehen hatten. Eine logische Folge des Aussterbens ihrer Beute. Die zweite Grup pe hatte sich auf Raub und Gewalt spezialisiert, am Anfang der Katastrophe eine durchaus probate Überlebensstrategie. In dem Maße aber, in dem sie die Zahl und den Besitz ihrer Opfer dezimierten und der Hunger anschließend das Seinige tat, entzogen sie sich die eigene Lebensgrundlage. Die Städte waren weitgehend menschenleer und die kleinen bewohnten Dorfgemeinschaften auf dem Land hatten inzwischen eine funktionierende Selbstverteidigung aufgebaut. Sie bilde-ten in Malows Augen die dritte Gruppe und verteidigten sich und ihre Nachbarn bis aufs Blut, wussten sie doch, dass nur der Zusammenhalt ihrer Gemeinschaft das eigene Überleben sicherte. Sicher gab es auch Ortschaften, die sich auf keinen gemeinsamen Weg einigen konnten und wo jeder sein eigenes Süppchen kochte. Hier fiel man früher oder später selbst übereinander her oder wurde von den letzten verbliebenen Mitgliedern der zweiten Gruppe ohne Rücksicht überrannt.
»Und zu welcher Gruppe gehören wir?«, fragte Hans.
»Wir treiben noch im Niemandsland. Silvia gehörte einmal zur ersten Gruppe, du, wärst du in deinem Wellendingen, zur dritten. Aber wenn ich mir unser Transportmittel und seine Ladung ansehe«, auf dem Rücken des Pferdes lag der Sack Kartoffeln, »dann gehören wir im Moment wohl eher zur zweiten Gruppe, den Banditen und Wegelagerern.« Die Waffe in Malows Hand gab ihm recht.
»Könnte man ja fast an einen göttlichen Plan hinter dem ganzen Chaos denken, wenn am Ende nur die Guten übrig bleiben«, sagte Hans. »Hosianna.«
»Von Guten habe ich nichts gesagt. Es werden wohl die übrig bleiben, die sich am ehesten mit den neuen Gegebenheiten arrangieren können, zum Positiven oder Negativen. Überhaupt geht es um positiv und negativ. Die Zeit der Entscheidung ist gekommen.« Er selbst hatte sich auch entscheiden müssen. »Solange die Welt in Ordnung war – was wir in Ordnung nannten –, solange konnte jeder den guten, aber auch den weniger guten Seiten in sich Raum geben. Man war quasi ein Zwitter und in Balance. Aber ich glaube, dass diese Katas trophe Entscheidungen einfordert. Wahrscheinlich ist es nicht immer ein bewusster Prozess, aber am Ende stehen die Leute entweder rechts
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