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Rattentanz

Titel: Rattentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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sein. Familien schleppten sich solange weiter, wie es der Schwächste der kleinen Gemeinschaft zuließ. Dann blieben sie, wo sie gerade waren und verhungerten langsam einer nach dem anderen. Malow hatte Dutzende Männer und Frauen gesehen, die, mit ihren Kindern in den Armen, am Straßenrand verfaulten. Krähen, Möwen, Füchse und streunende Hunde wurden fett in dieser Zeit des Überflusses. Wildschweine mussten, um auf reichlich Aas zu treffen, den Schutz des Waldes nicht mehr verlassen. Überall stank es nach Tod und Verwesung. Es war eine schleichende Apokalypse und die Frühsommersonne tat ihr Möglichstes, das Faulen und Verderben zu beschleunigen. Seit einigen Tagen, erzählte Henning Malow nach der Rückkehr von einer seiner Touren, waren kaum noch Reisende unterwegs. Gestern hatte er nur zwei Wanderer gesehen und keiner von beiden sah nach einem Morgen aus. Wahrscheinlich waren sie jetzt bereits tot.
    »Wenn wir hier bleiben, wird uns entweder irgendwelches Raubgesindel finden und erledigen oder wir verhungern.« Er hielt einen jungen Kiebitz, den er am frühen Morgen seiner entrüsteten Mutter aus dem Nest gestohlen hatte, an einem Spieß über das kleine Feuer. Er stieß mit der Fußspitze gegen seinen nun fast leeren Rucksack. »In zwei, drei Tagen haben wir nur noch das, was die Natur uns gibt.«
    »Und das ist definitiv zu wenig«, sagte Hans. Er spielte mit einer Maschinenpistole, die Malow vor vier Tagen im Wald gefunden hatte. Ma low war an einer Wegbiegung auf ein Schlachtfeld gestoßen. Überall lagen zerschossene Körper. Die Täter hatten offenbar die Leichen durch sucht, ihnen die Kleider ausgezogen und das wenige Gepäck im weiten Umkreis verteilt. An einem Baum hing an den Füßen ein Mann –
    nackt und mit abgeschnittenem Penis. Blut war ihm über Bauch, Brust und Gesicht gelaufen und bildete eine schwarze Lache unter ihm. Sein Glied fand Malow im Mund einer alten Frau, die man mit ge spreizten Beinen auf einen armdicken Baum, der etwa einen Meter über dem Boden abgebrochen war, gesetzt hatte. Auch sie war verblutet. Dann entdeckte Malow den Grund für diese unglaubliche Brutalität: Gegenwehr. Alles hier deutete auf einen Kampf hin. Offensichtlich war etwas schiefgegangen und das übliche »Hände hoch! Nahrung und Geld her!« hatte sich zu einer wahren Schlacht gewandelt. Malow fand drei junge Männer, fast noch Kinder, mit rußgeschwärzten Gesichtern. Sie trugen einen primitiven Lendenschurz und blaue Stirnbänder mit einer gelben Raute, anscheinend das Zeichen ihrer Vereinigung. Alle drei wiesen Stichverletzungen auf. Unter einem der Männer hatte Malow die Maschinenpistole gefunden.
    »Ich an eurer Stelle wäre schon lange gegangen«, sagte Hans.
    »Ich weiß, ich weiß. Erzähl doch zur Abwechslung mal was Neues.«
    Tatsächlich hatte Hans Seger seine Begleiter schon mehr als einmal zum Gehen aufgefordert. Er wusste, dass er es war, der nicht nur sein, sondern auch Malows, Silvias und das Leben der Kleinen gefähr dete. Seine Verletzung hinderte sie daran weiterzuziehen. Und bis zu sei nem ersten unsicheren Schritt würden noch Wochen vergehen, Wo chen, die sie nicht hatten.
    »Du wirst nie nach Rom kommen, wenn du mich nicht zurücklässt, du sentimentaler alter Sack.«
    Silvia musste sich beherrschen, um nicht laut loszulachen.
    »Ich lass dich nicht im Stich.« Malow allein wusste, was ihn daran hinderte, Hans Seger zu verlassen. Er hatte schon einmal einen Menschen allein und in einer hoffnungslosen Situation zurückgelassen, ein zweites Mal konnte er dies nicht. Noch nicht. »Wir müssen dich hier rausholen. Wenn wir dich erst dort oben haben«, er zeigte mit dem mageren Küken an seinem Spieß auf die Abbruchkante, »kommen wir schon irgendwie voran.« Er riss dem Kiebitz ein Bein aus und gab es Hans. Der reichte es weiter an Silvia und wurde von Malow da für mit einem finsteren Blick bedacht.
    »Das war für dich!«
    »War doch nur ein kleiner Knochen mit ein bisschen verbrannter Haut.«
    Malow verzehrte seine Beute, ohne Hans oder Silvia noch etwas ab zugeben. Selbst die winzigen, noch weichen Knochen des Vogels aß
    er. Dann stand er auf und nahm Hans die Waffe aus der Hand.
    »Ich hol dich hier raus«, versprach er. »Verlass dich drauf: heute Abend sitzen wir beide dort oben.«
    »Wir vier«, verbesserte Silvia.
    Malow überging ihren Einwurf.
    »Und wie willst du das anstellen?«, fragte Hans.
    »Wirst schon sehen.« Malow lächelte, klopfte Hans auf die Schulter und

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