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Rattentanz

Titel: Rattentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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schüttelte er den Kopf und fuhr sich durch den frisch geschnittenen, weißen Bart.
    »Ich bin Wissenschaftler«, begann er, »kein Theologe.«
    »Auch Wissenschaftler können an Gott glauben.«
    »Sicher. Die Frage ist nur, was wir unter Gott verstehen.« Er nahm einen Schluck Tee und verbrannte sich die Lippen. »Wenn Gott das all wissende Genie sein soll«, sagte er, als der Schmerz etwas nachgelassen hatte, »wenn er ein Genie ist, welches immer und jederzeit alles im Blick hat und unsere Geschicke lenkt, dann glaube ich nicht.«
    »Wie sieht Ihr Gott aus?«
    »Sie denken, ich habe einen?«
    Eva nickte.
    »Vielleicht haben Sie recht. Mein Gott ist jedoch kein bestimmtes Wesen, keine Lehre und erst recht kein Ritual, für das man Kirchen und Priester benötigt.«
    »Sondern?«
    »Das Göttliche steckt in allem und jedem. In Ihrer Tochter zum Beispiel. In Ihrer Schwangerschaft. In Ihnen.«
    »Was soll an uns göttlich sein, außer, dass Gott uns geschaffen hat?«
    »Das, was Sie tun. Ihr Mann ist verschollen, aber Sie machen weiter. Sie wurden beinahe entführt und haben trotzdem noch die Kraft, sich um einen alten Kerl wie mich zu kümmern. Ohne mich zu kennen und ohne zu wissen, ob ich jemals wieder aufwache, haben Sie mich aufgenommen und das wenige, was ihr habt, mit mir geteilt. Das ist göttlich. Blumen sind Gott oder ein Sonnenaufgang, Kinder und ihre Unschuld, ihre Reinheit. Der Gesang einer Amsel am Abend und Wolken, die sich verlieren, um gleich darauf wieder neu zu entstehen. Das ist für mich Gott, ohne dass ich ihm einen Namen gebe oder eine Gestalt.«
    Eva betrachtete die Kerzen und dachte über Assauers Worte nach. So weit waren ihr eigener Gott und der des alten Mannes gar nicht voneinander entfernt. Nur, dass ihr Gott einer Religion entsprang, seiner hingegen eigenem Erkennen und Fühlen.
    »Und Ihre Tochter, hat sie an Gott geglaubt?«
    »Sybilla?« Assauer lachte und in seinen Augen erschien erstmals seit Wochen etwas anderes als Trauer. »Sybilla hätte nicht einmal an Gott geglaubt, wenn der ihr auf die Schulter geklopft hätte. Sie führt, sie führte«, verbesserte er sich, »ein sehr emanzipiertes Leben, mit sehr fest geformten Strukturen. Sie hatte sich das Schwarz-WeißDenken der Kindheit bewahrt. Es gab gut und böse, richtig und falsch, aber nichts dazwischen. In ihrem Denken fehlten schon immer die feinen Abstufungen. Und Toleranz. Sollte es wider Erwarten doch einen Gott geben, möchte ich beim Auftauchen meiner Tochter nicht an seiner Stelle sein!« Er lächelte. Es war das Lächeln eines Vaters, der zwar um seine Tochter trauert, der aber im Reinen mit ihr war, als er von ihr getrennt wurde. Er wollte noch etwas hinzufügen, als es an der Tür klopfte und gleich darauf Bubi eintrat. Er fragte, ob alles in Ordnung wäre, dann verschwand er wieder in der Nacht. Susanne hatte es ihrem Sohn erzählt und der berichtete es kurz nach Mitternacht seinem einzigen wirklichen Freund, Martin Kiefer. Kiefer sah verheerend aus. Fuchs’ Versagen hatte ihm mehr zugesetzt als er bereit war zuzugeben. Er hatte so viel Hoffnung in die Arbeit des alten Penners gesteckt, wie er Fuchs nannte, dass die Enttäuschung ihn fast um den Verstand brachte. Kiefer trug inzwischen wie fast jeder Mann einen Vollbart. Seine Haare klebten in fettigen Strähnen am kantigen Kopf und sein Körpergeruch zwang Bubi Abstand zu halten.
    »Damals, auf dem Hardt, hätte ich den Wichser schon erschießen sollen!«, fluchte Kiefer. »Spätestens als wir ihn dort unter der Treppe fanden, hätte ich ihm ein Ende machen müssen!«
    »Wann gehen wir von hier weg?«, fragte Bubi. Aber auch heute, wie in jeder Nacht zuvor, antwortete der Freund nicht.
    »Zum Glück hast du ihn jetzt erledigt«, sagte Kiefer halbwegs zufrieden. »Ein ganzes Magazin hast du leer geschossen?«
    Bubi nickte. Jede verdammte Nacht seit Fuchs’ Hinscheiden musste er Kiefer die gleiche Geschichte erzählen. Immer wieder wollte der von Fuchs’ Ende hören. Und jedes Mal kam er anschließend zu Bubi und klopfte ihm anerkennend auf die Schulter.
    »Was wird jetzt, wo du nicht mehr nach Bonndorf kannst? Was wird aus uns und unseren Plänen?«
    »Unsere Pläne?« Kiefer musste sich zusammenreißen. »Ja, unsere Pläne.« Er setzte sich an den Küchentisch und stützte den Kopf in bei de Hände. »Man muss flexibel sein heutzutage, Bubi. Aber mach dir keine Sorgen – nichts hat sich geändert. Meine Leute in Bonndorf halten nach wie vor zu mir und warten nur

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