Rattentanz
nicht einfach ihrem Schicksal überlassen hatte, darüber rätselten sie heute noch. Malow fand, dass es einfach nur Glück war, von besonders menschenfreundlichen Personen gefunden worden zu sein. Menschenfreundlichkeit und Nächstenliebe waren zwar nicht unbedingt das, was man in diesen Tagen erwarten durfte – aber, so Malow, wahrscheinlich hatte die Abgeschiedenheit der Gegend ihren Teil dazu beigetragen, dass die Menschen des Dorfes, in das man sie gebracht hat te, nicht nur an sich dachten. Natürlich wurden Silvia und ihr Kind, wurden Hans und Malow nicht mit offenen Armen empfangen, aber sie wurden empfangen. Auch wenn ihnen die Männer des Dorfes schon bei ihrer Ankunft unmissverständlich klarmachten, dass sie spätestens am übernächsten Tag wieder weiterziehen mussten, so gab man ihnen doch immerhin zwei Tage Erholung, frische Kleider, die Möglichkeit, sich zu waschen und – und dies war das wirklich Außergewöhnliche – sie bekamen etwas zu essen. Hans glaubte, dass die vollkommene Hilflosigkeit ihrer Situation den Ausschlag gegeben hatte, Silvia, dass sie ihre Rettung einzig und allein Larissa zu verdanken hatten. Wahrscheinlich war, dass in jeder Meinung ein Funken Wahrheit lag.
Sie verbrachten zwei Tage in Künsdorf, verbrannten ihre schmutzigen und zerrissenen Kleidungsstücke und badeten eine Stunde in einem kleinen Weiher ein Stück außerhalb des Ortes. Künsdorf war es in den vergangenen Wochen nicht anders als dem Rest des Landes ergangen. Viele hatten das Dorf verlassen, kaum jemand war neu hinzugekommen und der kleine Friedhof platzte inzwischen aus allen Näh ten. Trotz eines nicht unerheblichen Getreidevorrates und reichlich Vieh in den Ställen rechts und links der Dorfstraße waren vierzig Prozent der Einwohner innerhalb kürzester Zeit an Durchfallerkrankungen gestorben. Vor allem die Alten und ohnehin Kranken, aber auch viele Kinder hatten zu den Opfern gezählt. Als Ursache wurde schnell der Dorfbach ausgemacht, in dem Exkremente und Abfälle aus einer kleinen, bachaufwärts gelegenen Siedlung das Trinkwasser Küns dorfs verseuchten. Die Männer Künsdorfs waren daraufhin dem Bachlauf folgend aus dem Dorf gezogen und zwei Tage später zurück ge kehrt. Zwei von ihnen fehlten. Seitdem aber war der Bach kristallklar und Durchfall und Erbrechen praktisch ausgerottet.
Am 28. Juni hatten Hans und die anderen Künsdorf verlassen. Den Schlitten mit Rädern, auf dem Hans weiterhin transportiert werden musste, baute Malow derart um, dass er ihn gemeinsam mit Silvia ziehen konnte. Als sie aus dem Dorf marschierten, lag Larissa angebunden auf Hans’ Bauch und am Fußende ein kleiner Sack Mehl, sechs Flaschen Milch und ein großes Stück geräucherter Schinken. Sie kamen zügig voran, denn jetzt, siebenunddreißig Tage nach dem Beginn der Katastrophe, hatten sich die Zustände in Deutschland, vielleicht auch weltweit, normalisiert – wenn es denn überhaupt angebracht war, im Zusammenhang mit Isolation, Hunger und Krankheiten von Normalität zu sprechen. Die, die nicht wussten, wohin, gab es nicht mehr. Städte lagen leer und die Dorfgemeinschaften achteten sorgsam auf sich und ihr Hab und Gut, welches ihnen eine Zukunft garantieren sollte. Hans und seine Gefährten sahen nur noch selten einzelne Reisende, Gruppen nie. An einem sicher drei Meter langen Stock, der neben Hans senkrecht nach oben ragte, hing ein weißes Tuch und signalisierte den Dörfern, denen sie sich näherten, friedliche Absichten. Aber meist hatten sie keine Probleme mehr, ein Dorf zu betreten.
Die Zeiten der Straßensperren und Wachposten schienen mehr oder weniger vorbei, denn es gab kaum noch Bedrohungen. Wer bis jetzt seinen Platz noch nicht gefunden hatte, der fand ihn wohl auch nicht mehr und war in der Regel allein und dermaßen geschwächt, dass auch ein Frauenkloster mit ihm fertig geworden wäre. Sie konnten alle zwei bis drei Tage, ohne auf offene Feindseligkeiten zu stoßen, einen Ort nahe der Autobahn betreten. Und fast nie gingen sie mit leeren Händen. Hans’ Schilderung ihrer Reise von Schweden über die Ostsee bis hierher, der Anblick seines geschienten Beines, vor allem aber Larissa, die alles und jeden in Beschlag nahm, öffnete der kleinen Gruppe die Vorratsschränke der Menschen. Es war nicht viel, was sie erbetteln konnten, aber es sicherte ihnen das Überleben. Sie folgten der A 9 an Hof und Bayreuth vorbei bis Nürnberg und bogen dort auf der A 6 Richtung Westen nach Heilbronn ab. Hier trafen
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