Rattentanz
sie auf die A 81, die Stuttgart passierte und nach Süden führte. Als sie am 16. Juli Stuttgart hinter sich hatten und in der Nähe Herrenbergs ihr Nachtlager aufschlugen, waren sie nur noch wenig mehr als einhundert Kilometer von Wellendingen entfernt.
»Weißt du, dass wir jetzt schon fast sieben Wochen zusammen sind?«
»Sieben erst? Mir kommt es wie eine Ewigkeit vor«, sagte Malow. Er half Hans beim Aufstehen und gab ihm seine Stöcke. Vor zwei Tagen hatten sie endlich die Schiene abgenommen. Der Bruch war offensichtlich sauber verheilt, das Bein weder geschwollen noch in einer unnatürlichen Haltung. Rechts und links von Silvia und Malow gestützt, hatte er einen ersten Schritt gewagt und war sofort weggeknickt. Sie hatten ihn gerade noch abfangen können. Malow war in ein Waldstück gegangen und mit zwei Stöcken zurückgekommen. Die oberen Enden der Stöcke, Astgabeln, die Hans sich unter die Arme klemmen konnte, hatte er mit Tüchern abgepolstert und fortan musste Hans in den kurzen Zeiten zwischen Schlaf und Reise Selbstständigkeit üben. Während Malow und Silvia ihr Lager auf-oder abbauten, humpelte Hans umher und lernte wieder gehen.
»Doch, es sind schon sieben Wochen. Oder erst, wie immer du willst.« Hans humpelte mit angezogenem Bein über eine kleine Wiese, während Malow eine Regenplane zwischen Obstbäumen anbrachte. Seit einigen Tagen begleiteten sie dunkle Regenwolken und durchnässten sie mehr als einmal bis auf die Knochen.
»Die Zeit rast«, sagte Hans, als sie wenig später alle um ein kleines Lagerfeuer saßen. Jeder kaute auf einem Stück Schinken. Silvia hatte wie jeden Tag aus Wasser und Mehl einen faden Teig angerührt und briet ihn auf flachen Steinen, die sie ins Feuer gelegt hatte, zu knusprigen Fladenbroten.
»Wahrscheinlich, weil wir ständig unterwegs sind. Und so viel erlebt haben«, vermutete Silvia. Sie gab Larissa ein Stück Brot. »Früher, als Kind, waren Tage eine Ewigkeit, ein halbes Leben. Mein Gott, könnt ihr euch noch an die Ferien erinnern? An die Zeit ohne Schule und Lehrer? Ich kann das Gefühl manchmal noch ganz genau spüren, die Freude über die unermesslich lange freie Zeit, die am ersten Ferientag vor mir lag.«
»Und jetzt reicht ein Tag kaum, um richtig wach zu werden und sich im Jetzt zurechtzufinden, stimmts?«, sagte Malow.
»Bingo.«
»Hat wohl was mit dem Alter zu tun. Psychologen könnten dir das bestimmt ganz genau erklären. Verhältnis Tageslänge und eigenes Alter oder Erfahrungen und Erlebtes und Unterbewusstsein natürlich und all so’n Zeug. Aber Psychologen habe ich schon lange nicht mehr gesehen.« Malow goss sich Wasser aus einem großen Plastikkanister nach. »Psychologen und Lehrer und Piloten – alle arbeitslos.«
»Mit fünf war für mich jeder Tag wie ein halbes Leben«, sagte Hans.
»Wie ein kaum leer zu bekommender Fundus aus Abenteuern und Er fahrungen. Aber es ist, als ob mit jedem erlebten Abenteuer und je der neuen Erfahrung die Zeit in sich zusammenschrumpft wie ein undichter Luftballon.« Er massierte sein Bein. »Wisst ihr, was früher Jah re waren ist heute nur noch ein Tag.«
»Und in meinem Alter ein Wimpernschlag«, sagte Malow.
»Ich denke, je mehr man erlebt hat, desto kürzer werden die Zeiteinheiten«, sinnierte Hans vor sich hin.
»Versteh ich nicht.«
»Einstein würde es vielleicht so ausdrücken: Persönlich empfundene Zeit ist gleich Alter mal Erfahrung. Je höher das Ergebnis, desto kür zer der empfundene Moment. Du zum Beispiel, Malow, du bist drei undsechzig. Nehmen wir mal an, ein Mensch sammelt durch-schnittlich zehn Erfahrungen am Tag, dann sind das dreitausendsechshundertfünfzig im Jahr, das macht also …«
»Rund zweihundertdreißigtausend.« Silvia war die Schnellste.
»Genau«, bestätigte Hans. »Und Larissa ist genau ein Jahr alt, also ergibt ihre persönlich empfundene Zeit einen Wert von dreitausendsechshundertfünfzig. Der Wert null ist die Unendlichkeit im Mutterleib …«
»… und alles danach ein immer hastigeres Sterben.« Malow nickte zu seinen eigenen Worten. »Alles dreht sich immer nur ums Sterben.«
Wie schon zuvor bei Nürnberg und Leipzig hatten sie auch im Groß raum Stuttgart in der Ferne Flugzeugwracks gesehen. Diese besaßen die seltene Gabe, immer dann am Horizont aufzutauchen, wenn sich im Denken von Hans und den anderen so etwas wie Normalität einstellen wollte. Sie hatten sich an die Zeitreise ins Mittelalter gewöhnt, aber an ausgebrannte Flugzeuge und die
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