Rattentanz
auch über das, was ihn vielleicht nicht mehr erwartete. Was sie, vor allem in den letzten zwei Wochen, gesehen hatten, zeigte, wie wohl auch der Alltag in Wellendingen aussehen musste, immer vorausgesetzt, es gab sein Heimatdorf und die Menschen dort noch. Es war Ruhe eingekehrt, Alltag, wenn man so wollte. Kaum jemand in all den Dörfern unterwegs hoffte noch auf eine Rückkehr zum Alten. Die Katastrophe hatte augenscheinlich nur diejenigen am Leben gelassen, die sich anpassen konnten, die dieses Leben annahmen und eben das Beste daraus machten. Und es war inzwischen schon zu viel Zeit vergangen, zu viel geschehen, was unumkehrbar schien. Überall kümmerten sich Hausfrauen und Fernfah rer, Pfarrer und Computerspezialisten, Lehrer und Beamte um Felder, Wiesen und Tiere. Deutschland hatte sich in eine Agrarnation verwandelt. Mit abenteuerlichen Geräten wurden Wiesen gemäht und das Gras zum Trocknen ausgelegt, wurde die erste reife Wintergerste geschnitten. Hans lächelte bei der Vorstellung, dass auch Eva und Lea mit Sicheln und Küchenmessern bewaffnet Getreide schnitten und die Garben wahrscheinlich in Albickers Scheune schleppten. Es war ein bitteres, ein trauriges Lächeln.
»In drei, vier Tagen wissen wir Bescheid, Hans«, sagte Malow.
»Dann hast du endlich Gewissheit.«
Hans sah Lea, die gemeinsam mit den anderen Kindern des Dorfes mit Knüppeln auf die Getreideähren einschlug, um die Körner zu lösen. »Was ist wohl schlimmer«, fragte er, »Tatsachen, die jede Zuversicht zerstören oder Ungewissheit, die aber wenigstens noch Raum für Hoffnung lässt?« Hans sah Malow in die Augen und wartete auf eine Antwort.
»In dem Augenblick, wo die Hoffnung zerstört werden würde, wäre Ungewissheit sicher besser. Aber wenn man selbst überleben will, muss man irgendwann der Realität ins Auge schauen, so schlimm sie auch sein mag. Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende, so heißt es doch, oder?« Hans nickte. »Aber was soll’s. Wir können hier noch ewig über alle Wenns und Abers dieser Welt nachdenken, wissen werden wir’s erst in Wellendingen.« Malow stand auf und breitete die Decken zum Schlafen aus. Dann gab er Hans dessen Krücken. »Hier. Statt nachzugrübeln solltest du lieber üben. Ich an deiner Stelle würde mein Haus auf eigenen Beinen betreten wollen.«
Hans lächelte. Er nahm die Stöcke, stemmte sich an ihnen hoch und humpelte einige Runden um ihr Lager. Am liebsten wäre er jetzt losgelaufen, nach Süden, ohne Pause, ohne Halt. Je näher er Wellendingen kam desto ungeduldiger wurde er, wie ein Pferd, das den nahen Stall wittert. Er wusste, dass Malow recht hatte, aber wie gewichtig waren die Ratschläge eines Mannes, der die eigene Frau in der Einsamkeit zurückgelassen hatte? Sehr wichtig, entschied er mit einem Blick auf Malow. In der Nacht setzte Nieselregen ein. Als sie im ersten Morgengrau en erwachten, berührten die Wolken fast den Boden, von den Bäumen tropfte es und alles erinnerte an November. Aber es war Juli, Hochsom mer. Sie schafften an diesem Tag etwas über dreißig Kilometer und übernachteten am Rand der Autobahn in der Nähe von Vöhringen. Am übernächsten Tag passierten sie Rottweil, kurz darauf Schwenningen. Zwischen beiden Städten verließen sie die Autobahn und schlugen ihr Lager kurz hinter Bad Dürrheim auf. Als sie dieses am 19. Juli abbrachen, konnte Hans seine Ungeduld kaum noch bändigen.
»Wenn nichts dazwischen kommt, sind wir heute Abend zu Hau se!«
»Dann mal los«, sagte Malow und sicherte Hans auf dessen Gefährt. Früher als sonst, es war fast noch Nacht, brachen sie auf. Sie umgingen auf der Bundesstraße Donaueschingen und Hüfingen, wo einige schwere Verkehrsunfälle ein Durchkommen beinahe unmöglich machten, und erreichten die Orte Behla und Hausen vor Wald. Hausen vor Wald lag gespenstig und menschenleer rechts und links der Dorfstraße. Das Gros der Gebäude war niedergebrannt und auf der Dorfstraße lagen Leichen und abgeschlachtetes Vieh. Selbst die Kirche hatte man nicht verschont.
Als der Hunger auch nach Hausen vor Wald gekommen war, hatten sich die wohlhabenden Bauern des Ortes geweigert, ihr Vieh und ihre reichlichen Vorräte der Dorfgemeinschaft zur Verfügung zu stellen. Sie schlossen sich gegen den hungernden Rest des Dorfes zusam men und verteidigten ihre Habe. Ausgelöst wurde die Katastrophe in Hausen vor Wald durch Harald Kunze. Kunze lebte mit Frau und drei kleinen Kindern seit zwei Jahren im Dorf. Am 6.
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