Rattentanz
Juni, der Tag, an dem Hans und Malow auf Silvia trafen, starb Kunzes Jüngste, Miriam, drei Jahre alt. Er nahm seine Toch ter und rannte mit ihr im Arm über die Dorfstraße zu Fielringer, dem größten Bauern im Ort.
»Hier, siehst du, was du getan hast, Fielringer?«, schrie er und trug seine Tochter ums ganze Anwesen. Alle Türen und Fenster waren verschlossen und Fielringer hatte in seiner ungelenken Handschrift überall Warntafeln angebracht: Betreten Verboten! Es wirt geschosen! Eine Drohung, die nicht nur so dahingesagt war, wie drei Tage zuvor eine Familie aus Bräunlingen hatte erfahren müssen, die es gewagt hatte, seine Stalltür zu öffnen.
»Ich verfluche dich, Fielringer! Was du uns antust, soll dir passieren und all deinen fetten Freunden!«, brüllte Kunze. Dann legte er Mi riam auf die Schwelle zu Fielringers Haus.
In der Nacht kam Kunze zurück. Zu Hause saßen zwei weitere Kinder. Sie hatten den Tod der kleinen Schwester nicht beweint, im Gegenteil. Der erste Gedanke des Großen war, dass, da nun ein Maul weniger zu stopfen war, mehr für die anderen übrig bliebe. Mehr von was? Von Nichts? Kunze wollte nicht zusehen, wie auch noch seine anderen Kinder und seine Frau verhungerten. Er wusste, dass Fielringer Milch und Eier besaß, Getreide in einem großen Speicher hinter dem Haus und Kartoffeln unten im Keller.
Kunze erwachte aus einem unruhigen Schlaf und wusste augenblicklich, was zu tun war. Er hatte nichts mehr zu verlieren, Ausharren bedeutete den Tod. Mit einem Vorschlaghammer klopfte er drei Mal gegen Fielringers Haustür, danach stand er plötzlich in dessen dunklem Flur. Sekunden später wurde auf ihn geschossen. Die Schrotflinte verwandelte sein Gesicht in ein Sieb. Fielringer zerrte den Leichnam auf die Straße und wollte gerade die eingeschlagene Tür vernageln, als aus der Dunkelheit Gestalten auftauchten. Kunzes Schläge gegen die Haustür und die anschließenden Schüsse hatten das Dorf geweckt. Danach ging alles sehr schnell. Fielringer schoss. Aber er hatte beide Patronen bereits für Kunze verbraucht. Fielringer wurde auf offener Straße erschlagen. Seine beiden Söhne konnten ihm nicht helfen und teilten wenig später das Schicksal des Vaters. Fielringers Frau sah, dass Mann und Kinder tot auf der Straße lagen und der Mob sich anschickte, das Haus zu stürmen. Daraufhin rannte sie in den Heuboden oberhalb des Stalles und legte Feuer. Was sie nicht haben durfte, sollte auch kein anderer besitzen.
Den Rest der kurzen Nacht verbrachte das Dorf in einem wahren Wettstreit, bei dem offensichtlich dem der Sieg winkte, der zuerst den Nachbarn erschlug und dessen Haus zerstörte. Als am Morgen die Sonne über Hausen vor Wald aufging, gab es keine Sieger, nur Verlierer. Alle Höfe waren niedergebrannt, Vorräte vernichtet und das Vieh krepiert oder in Panik in die Wälder geflohen. Die wenigen Überlebenden verließen das, was sie einmal ihre Heimat genannt hatten. Hans umklammerte Larissa. Silvia und Malow lenkten den Schlitten um Leichen und eingestürzte Giebel herum. Sie hetzten durch den kleinen Ort, an einer zur Seite geräumten Straßensperre vorbei und ver langsamten ihr Tempo erst, als sie eine kleine Anhöhe zwischen sich und die Ruinen gebracht hatten und sie Hausen vor Wald nicht mehr sehen konnten.
Sie stellten den Schlitten am Fahrbahnrand ab. Die Flucht hatte sie erschöpft. Malow glänzte der Schweiß auf der Stirn. Silvia kam zu Hans und nahm ihm Larissa aus dem Arm. Silvia weinte und drückte ihr Kind an sich.
»Nur eine kurze Pause, Hans.« Malow setzte sich zu Hans auf den Schlitten. Er nahm einen Schluck Wasser. »Wie weit ist es noch?«
»Zwanzig Kilometer ungefähr.« Hans’ Hände zitterten und alles Blut war aus seinem Gesicht verschwunden. Er kannte Hausen vor Wald von früher, war hier zu Dorffesten eingeladen gewesen oder wenn die Fußballmannschaften aus Bonndorf und Hausen vor Wald aufeinandertrafen. Den einen oder anderen hatte er gekannt, oberfläch lich nur, aber gekannt, mit Namen, Familie. Sie rasteten zehn Minuten, in denen keiner mehr ein Wort sprach. Als sie schließlich weiterzogen, dachte, Larissa ausgenommen, jeder dasselbe: Was erwartet uns in Wellendingen?
Nur noch zwanzig Kilometer! Wenn nichts Unvorhergesehenes passierte, könnten sie Hans’ Heimat am Abend erreichen. Sie würden Wellendingen auf jeden Fall heute noch erreichen, das wusste jeder, denn so kurz vor dem Ziel war keiner mehr zu einer weiteren Übernachtung unter freiem
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